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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
in eine wirthschaftliche Abhängigkeit, die oft schwerer empfunden wurde,
als vormals die patriarchalische Unfreiheit der alten Gesellschaft, und bald
von tobenden Anarchisten bald von menschenfreundlichen Denkern wurde
der Staat gemahnt, daß er mit seiner zwingenden Gerechtigkeit die Schwachen
gegen die Starken beschützen müsse.

Die riesigen Kapitalansammlungen, die völlig neuen wirthschaftlichen
Mächte, die in diesem Zeitalter der Erfindungen jählings aufschossen,
stellten an den Staat Anforderungen, von denen die Gesetzgeber der
großen Reformzeit nichts geahnt hatten. Die alte Losung hieß: freie
Selbstthätigkeit; jetzt erhob sich der Ruf nach erweiterter Wirksamkeit der
Staatsgewalt. Beuth, Hoffmann, Kühne, alle die alten wohlverdienten
Beamten, die einst dem Staatskanzler Hardenberg zur Hand gegangen
waren, fühlten sich jetzt wie in einer fremden Welt, da ihnen fast Alles
bezweifelt und bestritten wurde, was sie für den idealen Inhalt ihres
Lebens ansahen. Der König aber, der sich über die Umwälzung der
wirthschaftlichen Verhältnisse keineswegs täuschte und in seinem weichen
Herzen die Leiden der arbeitenden Klassen lebhaft mitempfand, besaß doch
weder die Willenskraft noch die Sachkenntniß um den Ansprüchen der
verwandelten Zeit gerecht zu werden. So geschah es, daß in diesen Jahren
der allgemeinen Enttäuschung auch die preußisch-deutsche Wirthschafts-
politik, die in den beiden letzten Jahrzehnten des alten Königs stolz von Sieg
zu Sieg vorgeschritten war, ihre feste Haltung verlor und, obgleich sie
die großen Errungenschaften der vorigen Regierung nicht preisgab, doch
aus Wirren und Kämpfen, aus Versuchen, Mißgriffen und Plänen selten
herauskam.

Die Fortdauer des Zollvereins war schon zur Zeit des Thronwechsels
so gut wie gesichert, nachdem Kühne die Bedenken der sparsam rechnenden
Finanzpartei widerlegt und der neue König noch als Kronprinz dieser
Widerlegung freudig zugestimmt hatte.*) Nun beseitigte Eichhorn kurz
bevor er sein altes Amt verließ noch die letzten Einwendungen und nahm
also einen würdigen Abschied von dem Vereine, dem er die besten Jahre
seines Lebens gewidmet hatte. Am 8. Mai 1841 wurden die Zollvereins-
verträge, mit unwesentlichen Aenderungen, für zwölf Jahre erneuert, und
alle die verbündeten kleinen Höfe sprachen lebhaft ihre Befriedigung aus.
Keinem von ihnen war je der Wunsch aufgestiegen, den geschlossenen Bund
zu lösen; die gute Sache hatte überall den guten Geist bündischer Ein-
tracht erweckt, die Zollverwaltung zeigte sich in allen Vereinsstaaten gleich
zuverlässig. Die wirthschaftlichen Segnungen des Zollvereins konnte
Niemand mehr verkennen. Rasch wie eine australische Ansiedlung blühte
auf der öden Rheinschanze Mannheim gegenüber die junge Fabrikstadt
Ludwigshafen empor, und die vormals so stillen Thäler Westphalens

*) S. o. IV. 578.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
in eine wirthſchaftliche Abhängigkeit, die oft ſchwerer empfunden wurde,
als vormals die patriarchaliſche Unfreiheit der alten Geſellſchaft, und bald
von tobenden Anarchiſten bald von menſchenfreundlichen Denkern wurde
der Staat gemahnt, daß er mit ſeiner zwingenden Gerechtigkeit die Schwachen
gegen die Starken beſchützen müſſe.

Die rieſigen Kapitalanſammlungen, die völlig neuen wirthſchaftlichen
Mächte, die in dieſem Zeitalter der Erfindungen jählings aufſchoſſen,
ſtellten an den Staat Anforderungen, von denen die Geſetzgeber der
großen Reformzeit nichts geahnt hatten. Die alte Loſung hieß: freie
Selbſtthätigkeit; jetzt erhob ſich der Ruf nach erweiterter Wirkſamkeit der
Staatsgewalt. Beuth, Hoffmann, Kühne, alle die alten wohlverdienten
Beamten, die einſt dem Staatskanzler Hardenberg zur Hand gegangen
waren, fühlten ſich jetzt wie in einer fremden Welt, da ihnen faſt Alles
bezweifelt und beſtritten wurde, was ſie für den idealen Inhalt ihres
Lebens anſahen. Der König aber, der ſich über die Umwälzung der
wirthſchaftlichen Verhältniſſe keineswegs täuſchte und in ſeinem weichen
Herzen die Leiden der arbeitenden Klaſſen lebhaft mitempfand, beſaß doch
weder die Willenskraft noch die Sachkenntniß um den Anſprüchen der
verwandelten Zeit gerecht zu werden. So geſchah es, daß in dieſen Jahren
der allgemeinen Enttäuſchung auch die preußiſch-deutſche Wirthſchafts-
politik, die in den beiden letzten Jahrzehnten des alten Königs ſtolz von Sieg
zu Sieg vorgeſchritten war, ihre feſte Haltung verlor und, obgleich ſie
die großen Errungenſchaften der vorigen Regierung nicht preisgab, doch
aus Wirren und Kämpfen, aus Verſuchen, Mißgriffen und Plänen ſelten
herauskam.

Die Fortdauer des Zollvereins war ſchon zur Zeit des Thronwechſels
ſo gut wie geſichert, nachdem Kühne die Bedenken der ſparſam rechnenden
Finanzpartei widerlegt und der neue König noch als Kronprinz dieſer
Widerlegung freudig zugeſtimmt hatte.*) Nun beſeitigte Eichhorn kurz
bevor er ſein altes Amt verließ noch die letzten Einwendungen und nahm
alſo einen würdigen Abſchied von dem Vereine, dem er die beſten Jahre
ſeines Lebens gewidmet hatte. Am 8. Mai 1841 wurden die Zollvereins-
verträge, mit unweſentlichen Aenderungen, für zwölf Jahre erneuert, und
alle die verbündeten kleinen Höfe ſprachen lebhaft ihre Befriedigung aus.
Keinem von ihnen war je der Wunſch aufgeſtiegen, den geſchloſſenen Bund
zu löſen; die gute Sache hatte überall den guten Geiſt bündiſcher Ein-
tracht erweckt, die Zollverwaltung zeigte ſich in allen Vereinsſtaaten gleich
zuverläſſig. Die wirthſchaftlichen Segnungen des Zollvereins konnte
Niemand mehr verkennen. Raſch wie eine auſtraliſche Anſiedlung blühte
auf der öden Rheinſchanze Mannheim gegenüber die junge Fabrikſtadt
Ludwigshafen empor, und die vormals ſo ſtillen Thäler Weſtphalens

*) S. o. IV. 578.
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[434/0448] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. in eine wirthſchaftliche Abhängigkeit, die oft ſchwerer empfunden wurde, als vormals die patriarchaliſche Unfreiheit der alten Geſellſchaft, und bald von tobenden Anarchiſten bald von menſchenfreundlichen Denkern wurde der Staat gemahnt, daß er mit ſeiner zwingenden Gerechtigkeit die Schwachen gegen die Starken beſchützen müſſe. Die rieſigen Kapitalanſammlungen, die völlig neuen wirthſchaftlichen Mächte, die in dieſem Zeitalter der Erfindungen jählings aufſchoſſen, ſtellten an den Staat Anforderungen, von denen die Geſetzgeber der großen Reformzeit nichts geahnt hatten. Die alte Loſung hieß: freie Selbſtthätigkeit; jetzt erhob ſich der Ruf nach erweiterter Wirkſamkeit der Staatsgewalt. Beuth, Hoffmann, Kühne, alle die alten wohlverdienten Beamten, die einſt dem Staatskanzler Hardenberg zur Hand gegangen waren, fühlten ſich jetzt wie in einer fremden Welt, da ihnen faſt Alles bezweifelt und beſtritten wurde, was ſie für den idealen Inhalt ihres Lebens anſahen. Der König aber, der ſich über die Umwälzung der wirthſchaftlichen Verhältniſſe keineswegs täuſchte und in ſeinem weichen Herzen die Leiden der arbeitenden Klaſſen lebhaft mitempfand, beſaß doch weder die Willenskraft noch die Sachkenntniß um den Anſprüchen der verwandelten Zeit gerecht zu werden. So geſchah es, daß in dieſen Jahren der allgemeinen Enttäuſchung auch die preußiſch-deutſche Wirthſchafts- politik, die in den beiden letzten Jahrzehnten des alten Königs ſtolz von Sieg zu Sieg vorgeſchritten war, ihre feſte Haltung verlor und, obgleich ſie die großen Errungenſchaften der vorigen Regierung nicht preisgab, doch aus Wirren und Kämpfen, aus Verſuchen, Mißgriffen und Plänen ſelten herauskam. Die Fortdauer des Zollvereins war ſchon zur Zeit des Thronwechſels ſo gut wie geſichert, nachdem Kühne die Bedenken der ſparſam rechnenden Finanzpartei widerlegt und der neue König noch als Kronprinz dieſer Widerlegung freudig zugeſtimmt hatte. *) Nun beſeitigte Eichhorn kurz bevor er ſein altes Amt verließ noch die letzten Einwendungen und nahm alſo einen würdigen Abſchied von dem Vereine, dem er die beſten Jahre ſeines Lebens gewidmet hatte. Am 8. Mai 1841 wurden die Zollvereins- verträge, mit unweſentlichen Aenderungen, für zwölf Jahre erneuert, und alle die verbündeten kleinen Höfe ſprachen lebhaft ihre Befriedigung aus. Keinem von ihnen war je der Wunſch aufgeſtiegen, den geſchloſſenen Bund zu löſen; die gute Sache hatte überall den guten Geiſt bündiſcher Ein- tracht erweckt, die Zollverwaltung zeigte ſich in allen Vereinsſtaaten gleich zuverläſſig. Die wirthſchaftlichen Segnungen des Zollvereins konnte Niemand mehr verkennen. Raſch wie eine auſtraliſche Anſiedlung blühte auf der öden Rheinſchanze Mannheim gegenüber die junge Fabrikſtadt Ludwigshafen empor, und die vormals ſo ſtillen Thäler Weſtphalens *) S. o. IV. 578.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/448>, abgerufen am 21.11.2024.