das Wunder, die Menschen über den Zustand der Thierheit zu erheben. Feinere Naturen, die das Undeutsche dieser Lehre empfanden, wollten mindestens der weitblickenden Selbstsucht eine solche Wunderkraft zu- schreiben, ohne zu bedenken, daß die Selbstsucht nicht weit blicken kann, von ihren Niederungen aus das Ganze des Volkslebens nicht zu übersehen vermag. Die Theorie beruhte auf einem unhistorischen Optimismus, der zwei Großmächte der Weltgeschichte, die Mächte der Dummheit und der Sünde ganz verkannte und folgerecht zu dem Schlusse gelangen mußte, durch die zunehmende Erkenntniß des eigenen Interesses würde das Ver- brechen von selbst aus der Menschheit verschwinden. Wohl lehrten auf den deutschen Universitäten Schmitthenner, Eiselen sowie einige andere wenig hervorragende Anhänger des Schutzzollsystems, und C. H. Rau in Heidelberg, ein besonnener Anhänger der Lehre Smith's, speicherte in seinen gründlichen Lehrbüchern ein reiches statistisches Material auf, um also aus der Fülle der Erfahrung heraus die einzelnen Sätze des Systems zu ergänzen oder einzuschränken. Vorherrschend blieb doch die Meinung, daß die Güterwelt überall und jederzeit unwandelbaren Naturgesetzen unterworfen sei.
In dies Traumleben der theoretischen Abstraktion brach nun List's Buch wie ein Wetterschlag herein. Mit dem ganzen Pathos seiner vater- ländischen Leidenschaft bekämpfte er den Individualismus und, was im Grunde dasselbe sagte, das Weltbürgerthum der herrschenden Schule. Er zeigte, daß die Volkswirthschaft jeder Nation ein lebendiges Ganzes bildet, alle ihre Glieder auf einander angewiesen sind und "die Individuen den größten Theil ihrer produktiven Kräfte von der politischen Organisa- tion der Regierung und der Macht der Nation empfangen". Mit mäßigen historischen Kenntnissen, aber mit einem glücklichen historischen Blicke, der trotzdem meistens das Wesentliche herausfand, schilderte er den wirth- schaftlichen Entwicklungsgang der großen Nationen, wie sie sich allesammt in harten Machtkämpfen mit dem Wettbewerb anderer Völker behauptet, ihren heimischen Gewerbfleiß durch Zölle und Monopole geschützt hatten.
Auf dem Grunde dieser historischen Erfahrungen baute er nun sein eigenes Schutzzollsystem auf, das sich von dem alten Mercantilsystem wesent- lich unterschied: er suchte den Reichthum der Völker keineswegs in den edlen Metallen, aber er erkannte die von den Freihändlern abgeleugnete Be- deutung der Handelsbilanz wieder an, da sich an dem Werthe und der Art der ein- und ausgeführten Waaren allerdings die Höhe der wirth- schaftlichen Cultur eines Volks annähernd abschätzen läßt; er verlangte Schutzzölle als Mittel der Ermunterung und Erziehung, damit neue pro- duktive Kräfte, immerhin gegen die Aufopferung von Tauschwerthen, ge- weckt würden, die Nationen des Festlands sich von dem Drucke der eng- lischen Handelsübermacht befreiten und schließlich dahin gelangten, "nur von denen zu kaufen, die von uns kaufen." Berauscht von dem Anblick
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 29
Liſt’s Nationales Syſtem.
das Wunder, die Menſchen über den Zuſtand der Thierheit zu erheben. Feinere Naturen, die das Undeutſche dieſer Lehre empfanden, wollten mindeſtens der weitblickenden Selbſtſucht eine ſolche Wunderkraft zu- ſchreiben, ohne zu bedenken, daß die Selbſtſucht nicht weit blicken kann, von ihren Niederungen aus das Ganze des Volkslebens nicht zu überſehen vermag. Die Theorie beruhte auf einem unhiſtoriſchen Optimismus, der zwei Großmächte der Weltgeſchichte, die Mächte der Dummheit und der Sünde ganz verkannte und folgerecht zu dem Schluſſe gelangen mußte, durch die zunehmende Erkenntniß des eigenen Intereſſes würde das Ver- brechen von ſelbſt aus der Menſchheit verſchwinden. Wohl lehrten auf den deutſchen Univerſitäten Schmitthenner, Eiſelen ſowie einige andere wenig hervorragende Anhänger des Schutzzollſyſtems, und C. H. Rau in Heidelberg, ein beſonnener Anhänger der Lehre Smith’s, ſpeicherte in ſeinen gründlichen Lehrbüchern ein reiches ſtatiſtiſches Material auf, um alſo aus der Fülle der Erfahrung heraus die einzelnen Sätze des Syſtems zu ergänzen oder einzuſchränken. Vorherrſchend blieb doch die Meinung, daß die Güterwelt überall und jederzeit unwandelbaren Naturgeſetzen unterworfen ſei.
In dies Traumleben der theoretiſchen Abſtraktion brach nun Liſt’s Buch wie ein Wetterſchlag herein. Mit dem ganzen Pathos ſeiner vater- ländiſchen Leidenſchaft bekämpfte er den Individualismus und, was im Grunde daſſelbe ſagte, das Weltbürgerthum der herrſchenden Schule. Er zeigte, daß die Volkswirthſchaft jeder Nation ein lebendiges Ganzes bildet, alle ihre Glieder auf einander angewieſen ſind und „die Individuen den größten Theil ihrer produktiven Kräfte von der politiſchen Organiſa- tion der Regierung und der Macht der Nation empfangen“. Mit mäßigen hiſtoriſchen Kenntniſſen, aber mit einem glücklichen hiſtoriſchen Blicke, der trotzdem meiſtens das Weſentliche herausfand, ſchilderte er den wirth- ſchaftlichen Entwicklungsgang der großen Nationen, wie ſie ſich alleſammt in harten Machtkämpfen mit dem Wettbewerb anderer Völker behauptet, ihren heimiſchen Gewerbfleiß durch Zölle und Monopole geſchützt hatten.
Auf dem Grunde dieſer hiſtoriſchen Erfahrungen baute er nun ſein eigenes Schutzzollſyſtem auf, das ſich von dem alten Mercantilſyſtem weſent- lich unterſchied: er ſuchte den Reichthum der Völker keineswegs in den edlen Metallen, aber er erkannte die von den Freihändlern abgeleugnete Be- deutung der Handelsbilanz wieder an, da ſich an dem Werthe und der Art der ein- und ausgeführten Waaren allerdings die Höhe der wirth- ſchaftlichen Cultur eines Volks annähernd abſchätzen läßt; er verlangte Schutzzölle als Mittel der Ermunterung und Erziehung, damit neue pro- duktive Kräfte, immerhin gegen die Aufopferung von Tauſchwerthen, ge- weckt würden, die Nationen des Feſtlands ſich von dem Drucke der eng- liſchen Handelsübermacht befreiten und ſchließlich dahin gelangten, „nur von denen zu kaufen, die von uns kaufen.“ Berauſcht von dem Anblick
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 29
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Liſt’s Nationales Syſtem.
das Wunder, die Menſchen über den Zuſtand der Thierheit zu erheben.
Feinere Naturen, die das Undeutſche dieſer Lehre empfanden, wollten
mindeſtens der weitblickenden Selbſtſucht eine ſolche Wunderkraft zu-
ſchreiben, ohne zu bedenken, daß die Selbſtſucht nicht weit blicken kann,
von ihren Niederungen aus das Ganze des Volkslebens nicht zu überſehen
vermag. Die Theorie beruhte auf einem unhiſtoriſchen Optimismus,
der zwei Großmächte der Weltgeſchichte, die Mächte der Dummheit und
der Sünde ganz verkannte und folgerecht zu dem Schluſſe gelangen mußte,
durch die zunehmende Erkenntniß des eigenen Intereſſes würde das Ver-
brechen von ſelbſt aus der Menſchheit verſchwinden. Wohl lehrten auf
den deutſchen Univerſitäten Schmitthenner, Eiſelen ſowie einige andere
wenig hervorragende Anhänger des Schutzzollſyſtems, und C. H. Rau
in Heidelberg, ein beſonnener Anhänger der Lehre Smith’s, ſpeicherte in
ſeinen gründlichen Lehrbüchern ein reiches ſtatiſtiſches Material auf, um
alſo aus der Fülle der Erfahrung heraus die einzelnen Sätze des Syſtems
zu ergänzen oder einzuſchränken. Vorherrſchend blieb doch die Meinung,
daß die Güterwelt überall und jederzeit unwandelbaren Naturgeſetzen
unterworfen ſei.
In dies Traumleben der theoretiſchen Abſtraktion brach nun Liſt’s
Buch wie ein Wetterſchlag herein. Mit dem ganzen Pathos ſeiner vater-
ländiſchen Leidenſchaft bekämpfte er den Individualismus und, was im
Grunde daſſelbe ſagte, das Weltbürgerthum der herrſchenden Schule.
Er zeigte, daß die Volkswirthſchaft jeder Nation ein lebendiges Ganzes
bildet, alle ihre Glieder auf einander angewieſen ſind und „die Individuen
den größten Theil ihrer produktiven Kräfte von der politiſchen Organiſa-
tion der Regierung und der Macht der Nation empfangen“. Mit mäßigen
hiſtoriſchen Kenntniſſen, aber mit einem glücklichen hiſtoriſchen Blicke,
der trotzdem meiſtens das Weſentliche herausfand, ſchilderte er den wirth-
ſchaftlichen Entwicklungsgang der großen Nationen, wie ſie ſich alleſammt
in harten Machtkämpfen mit dem Wettbewerb anderer Völker behauptet,
ihren heimiſchen Gewerbfleiß durch Zölle und Monopole geſchützt hatten.
Auf dem Grunde dieſer hiſtoriſchen Erfahrungen baute er nun ſein
eigenes Schutzzollſyſtem auf, das ſich von dem alten Mercantilſyſtem weſent-
lich unterſchied: er ſuchte den Reichthum der Völker keineswegs in den edlen
Metallen, aber er erkannte die von den Freihändlern abgeleugnete Be-
deutung der Handelsbilanz wieder an, da ſich an dem Werthe und der
Art der ein- und ausgeführten Waaren allerdings die Höhe der wirth-
ſchaftlichen Cultur eines Volks annähernd abſchätzen läßt; er verlangte
Schutzzölle als Mittel der Ermunterung und Erziehung, damit neue pro-
duktive Kräfte, immerhin gegen die Aufopferung von Tauſchwerthen, ge-
weckt würden, die Nationen des Feſtlands ſich von dem Drucke der eng-
liſchen Handelsübermacht befreiten und ſchließlich dahin gelangten, „nur
von denen zu kaufen, die von uns kaufen.“ Berauſcht von dem Anblick
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 29
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/463>, abgerufen am 26.06.2024.
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