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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
Südens tobten; List meinte zornig, jeder durch Preußen abgeschlossene
Handelsvertrag sei ein öffentliches Unglück für den Zollverein. In Wahr-
heit war dieser vielgeschmähte Vertrag sehr unschuldig, ja sogar vortheil-
haft für Deutschland. England versprach, den Zollvereinsschiffen die Ver-
günstigungen, welche ihnen bisher nur für die direkte Fahrt zustanden,
künftighin auch für die indirekte Fahrt aus den sogenannten Vorhäfen
des Zollvereins, aus den Nordseehäfen zwischen Elbe und Rhein, zu ge-
währen. Die preußische Regierung hatte mithin einen kleinen Schritt
vorwärts gethan auf der Bahn der nationalen Handelseinheit; sie hatte
erreicht, daß England anfing, das gesammte Deutschland in Sachen der
Schifffahrt als ein handelspolitisches Ganzes zu behandeln. Dafür gab
sie nur das selbstverständliche Versprechen, daß sie auch ihrerseits für
die Dauer des Vertrags nichts ändern würde an ihrer Schifffahrtsgesetz-
gebung, die allerdings weit liberaler war als die englische Navigations-
akte und zwischen direkter und indirekter Fahrt keinen Unterschied kannte.
Der wüste, ziellose Lärm bewies lediglich, wie viel schroffe Parteigegen-
sätze der Zollverein in sich barg. König Friedrich Wilhelm schwankte
einen Augenblick, dann fragte er Kühne um Rath und ließ sich überzeugen.*)
Darauf rechtfertigte der streitbare General-Steuerdirektor den englischen
Vertrag in der Staatszeitung durch einen lichtvollen Aufsatz, der die
Gegner zum Schweigen brachte. --

Weit wichtiger wurden die langwierigen Zollverhandlungen mit Belgien.
Hier galt es, nöthigenfalls selbst durch wirthschaftliche Opfer, eine ernste
politische Gefahr abzuwenden. Schon vor längerer Zeit hatte König Leo-
pold in Berlin leise anfragen lassen, ob Belgien nicht in den Zollverein
eintreten könne, und darauf die Antwort erhalten, der Zollverein solle ein
ausschließlich deutscher Handelsbund bleiben.**) Es stellte sich bald heraus,
daß jene Anfrage eine diplomatische Falle war; denn wäre die preußische
Regierung auf das keineswegs ernstlich gemeinte Anerbieten irgendwie ein-
gegangen, so hätte sie das Recht verloren, künftighin gegen einen französisch-
belgischen Zollverein Einspruch zu erheben. Und dies für Deutschland
bedrohliche Unternehmen wurde im Sommer 1841 wirklich in Angriff ge-
nommen; man erfuhr in London, daß der Brüsseler Hof in Paris die
Bildung eines Zollvereins, nach dem Vorbilde des deutschen, vorgeschlagen
hatte.***) Der Antrag ging, wie der König von Württemberg bald aus
sicherster Quelle vernahm+), von Leopold persönlich aus, und Guizot konnte
ihn nicht von der Hand weisen, da die Einverleibung Belgiens noch immer
der Traum jedes Franzosen war und alle Nachbarmächte die Erfolge der
preußischen Zollvereinspolitik mit Eifersucht betrachteten; ein Glück nur,

*) Nach Kühne's Denkwürdigkeiten.
**) Dieses Vorfalls gedenkt Bunsen in seinem Berichte vom 28. Febr. 1843.
***) Schleinitz's Bericht, London 27. Juli 1841.
+) Rochow's Bericht, Stuttgart 19. Jan. 1843.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Südens tobten; Liſt meinte zornig, jeder durch Preußen abgeſchloſſene
Handelsvertrag ſei ein öffentliches Unglück für den Zollverein. In Wahr-
heit war dieſer vielgeſchmähte Vertrag ſehr unſchuldig, ja ſogar vortheil-
haft für Deutſchland. England verſprach, den Zollvereinsſchiffen die Ver-
günſtigungen, welche ihnen bisher nur für die direkte Fahrt zuſtanden,
künftighin auch für die indirekte Fahrt aus den ſogenannten Vorhäfen
des Zollvereins, aus den Nordſeehäfen zwiſchen Elbe und Rhein, zu ge-
währen. Die preußiſche Regierung hatte mithin einen kleinen Schritt
vorwärts gethan auf der Bahn der nationalen Handelseinheit; ſie hatte
erreicht, daß England anfing, das geſammte Deutſchland in Sachen der
Schifffahrt als ein handelspolitiſches Ganzes zu behandeln. Dafür gab
ſie nur das ſelbſtverſtändliche Verſprechen, daß ſie auch ihrerſeits für
die Dauer des Vertrags nichts ändern würde an ihrer Schifffahrtsgeſetz-
gebung, die allerdings weit liberaler war als die engliſche Navigations-
akte und zwiſchen direkter und indirekter Fahrt keinen Unterſchied kannte.
Der wüſte, zielloſe Lärm bewies lediglich, wie viel ſchroffe Parteigegen-
ſätze der Zollverein in ſich barg. König Friedrich Wilhelm ſchwankte
einen Augenblick, dann fragte er Kühne um Rath und ließ ſich überzeugen.*)
Darauf rechtfertigte der ſtreitbare General-Steuerdirektor den engliſchen
Vertrag in der Staatszeitung durch einen lichtvollen Aufſatz, der die
Gegner zum Schweigen brachte. —

Weit wichtiger wurden die langwierigen Zollverhandlungen mit Belgien.
Hier galt es, nöthigenfalls ſelbſt durch wirthſchaftliche Opfer, eine ernſte
politiſche Gefahr abzuwenden. Schon vor längerer Zeit hatte König Leo-
pold in Berlin leiſe anfragen laſſen, ob Belgien nicht in den Zollverein
eintreten könne, und darauf die Antwort erhalten, der Zollverein ſolle ein
ausſchließlich deutſcher Handelsbund bleiben.**) Es ſtellte ſich bald heraus,
daß jene Anfrage eine diplomatiſche Falle war; denn wäre die preußiſche
Regierung auf das keineswegs ernſtlich gemeinte Anerbieten irgendwie ein-
gegangen, ſo hätte ſie das Recht verloren, künftighin gegen einen franzöſiſch-
belgiſchen Zollverein Einſpruch zu erheben. Und dies für Deutſchland
bedrohliche Unternehmen wurde im Sommer 1841 wirklich in Angriff ge-
nommen; man erfuhr in London, daß der Brüſſeler Hof in Paris die
Bildung eines Zollvereins, nach dem Vorbilde des deutſchen, vorgeſchlagen
hatte.***) Der Antrag ging, wie der König von Württemberg bald aus
ſicherſter Quelle vernahm†), von Leopold perſönlich aus, und Guizot konnte
ihn nicht von der Hand weiſen, da die Einverleibung Belgiens noch immer
der Traum jedes Franzoſen war und alle Nachbarmächte die Erfolge der
preußiſchen Zollvereinspolitik mit Eiferſucht betrachteten; ein Glück nur,

*) Nach Kühne’s Denkwürdigkeiten.
**) Dieſes Vorfalls gedenkt Bunſen in ſeinem Berichte vom 28. Febr. 1843.
***) Schleinitz’s Bericht, London 27. Juli 1841.
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[458/0472] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. Südens tobten; Liſt meinte zornig, jeder durch Preußen abgeſchloſſene Handelsvertrag ſei ein öffentliches Unglück für den Zollverein. In Wahr- heit war dieſer vielgeſchmähte Vertrag ſehr unſchuldig, ja ſogar vortheil- haft für Deutſchland. England verſprach, den Zollvereinsſchiffen die Ver- günſtigungen, welche ihnen bisher nur für die direkte Fahrt zuſtanden, künftighin auch für die indirekte Fahrt aus den ſogenannten Vorhäfen des Zollvereins, aus den Nordſeehäfen zwiſchen Elbe und Rhein, zu ge- währen. Die preußiſche Regierung hatte mithin einen kleinen Schritt vorwärts gethan auf der Bahn der nationalen Handelseinheit; ſie hatte erreicht, daß England anfing, das geſammte Deutſchland in Sachen der Schifffahrt als ein handelspolitiſches Ganzes zu behandeln. Dafür gab ſie nur das ſelbſtverſtändliche Verſprechen, daß ſie auch ihrerſeits für die Dauer des Vertrags nichts ändern würde an ihrer Schifffahrtsgeſetz- gebung, die allerdings weit liberaler war als die engliſche Navigations- akte und zwiſchen direkter und indirekter Fahrt keinen Unterſchied kannte. Der wüſte, zielloſe Lärm bewies lediglich, wie viel ſchroffe Parteigegen- ſätze der Zollverein in ſich barg. König Friedrich Wilhelm ſchwankte einen Augenblick, dann fragte er Kühne um Rath und ließ ſich überzeugen. *) Darauf rechtfertigte der ſtreitbare General-Steuerdirektor den engliſchen Vertrag in der Staatszeitung durch einen lichtvollen Aufſatz, der die Gegner zum Schweigen brachte. — Weit wichtiger wurden die langwierigen Zollverhandlungen mit Belgien. Hier galt es, nöthigenfalls ſelbſt durch wirthſchaftliche Opfer, eine ernſte politiſche Gefahr abzuwenden. Schon vor längerer Zeit hatte König Leo- pold in Berlin leiſe anfragen laſſen, ob Belgien nicht in den Zollverein eintreten könne, und darauf die Antwort erhalten, der Zollverein ſolle ein ausſchließlich deutſcher Handelsbund bleiben. **) Es ſtellte ſich bald heraus, daß jene Anfrage eine diplomatiſche Falle war; denn wäre die preußiſche Regierung auf das keineswegs ernſtlich gemeinte Anerbieten irgendwie ein- gegangen, ſo hätte ſie das Recht verloren, künftighin gegen einen franzöſiſch- belgiſchen Zollverein Einſpruch zu erheben. Und dies für Deutſchland bedrohliche Unternehmen wurde im Sommer 1841 wirklich in Angriff ge- nommen; man erfuhr in London, daß der Brüſſeler Hof in Paris die Bildung eines Zollvereins, nach dem Vorbilde des deutſchen, vorgeſchlagen hatte. ***) Der Antrag ging, wie der König von Württemberg bald aus ſicherſter Quelle vernahm †), von Leopold perſönlich aus, und Guizot konnte ihn nicht von der Hand weiſen, da die Einverleibung Belgiens noch immer der Traum jedes Franzoſen war und alle Nachbarmächte die Erfolge der preußiſchen Zollvereinspolitik mit Eiferſucht betrachteten; ein Glück nur, *) Nach Kühne’s Denkwürdigkeiten. **) Dieſes Vorfalls gedenkt Bunſen in ſeinem Berichte vom 28. Febr. 1843. ***) Schleinitz’s Bericht, London 27. Juli 1841. †) Rochow’s Bericht, Stuttgart 19. Jan. 1843.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/472>, abgerufen am 22.11.2024.