V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
gemäß (less obvious).*) Ueberdies war der Lord mit Guizot persönlich befreundet; ein minder befangener Beobachter als Bunsen hätte auch leicht einsehen müssen, daß weder England noch Oesterreich ernstlich beabsichtigen konnte die Politik des deutschen Zollvereins zu unterstützen. Das Er- starken der Mitte Europas schien allen Mächten gleich bedrohlich.
Der preußische Staat sah sich mithin auf seine eigene Kraft ange- wiesen, und er besaß, wie die Dinge lagen, nur eine Waffe um den bel- gisch-französischen Zollverein zu verhindern: er mußte den Belgiern einen Handelsvertrag anbieten, der ihnen die Annahme des französischen Zoll- systems unmöglich machte. Zu diesem Zwecke wurden in Brüssel lang- wierige Unterhandlungen eingeleitet. Ihr Verlauf bewies, daß König Leo- pold und sein gewandter Minister Nothomb das Schreckbild des französischen Zollvereins wesentlich als ein Mittel benutzten, um auf Deutschland zu drücken. Als die Verhandlung begann, versicherte Leopold seinem Neffen zu Windsor inbrünstig, der französische Plan sei jetzt gänzlich aufgegeben; als sie nachher in's Stocken kam und Preußen sich sogar genöthigt sah, die Zollbelästigungen des kleinen Nachbarlandes durch kräftige Retorsionen zu beantworten, da tauchte der französische Zollvereinsgedanke plötzlich wieder auf.**) Dem Coburgischen Voltenschläger konnte Niemand so leicht in die Karten sehen, und da er auch auf Frankreichs Hilfe sicher rechnen durfte, so befand sich Preußen in einer schwierigen diplomatischen Lage.
Gesandter in Brüssel war Frhr. Heinrich v. Arnim, einer von den romantischen Jugendfreunden des Königs. Er hatte einst die Salons der Wilhelmstraße durch Geist und Witz, durch beredte Vertheidigung der Haller'schen Staatslehre entzückt, neuerdings aber, belehrt durch die Er- fahrung, sich liberaleren Anschauungen zugewendet. Von Deutschlands künftiger Macht und Herrlichkeit dachte er immer groß. Ebenso ehrgeizig als talentvoll verstand er in der vornehmen Welt scharf zu beobachten, auch mit Gelehrten gut auszukommen; begabte junge Männer fühlten sich von seiner anregenden Liebenswürdigkeit unwiderstehlich angezogen. Leider lag in seiner Natur ein phantastischer, halb närrischer Zug, der sich gemeinhin nur in sonderbaren naturphilosophischen Liebhabereien und in einem strengen Pietismus bekundete, zuweilen aber auch politisch gefährlich wurde. Arnim liebte die Häfen und die Fabriken zu bereisen und sagte stolz: "Nationalöko- nomie ist meine Specialität,"***) obwohl seine volkswirthschaftliche Sach- kenntniß nicht weit über das Wissen eines vornehmen Dilettanten hinausging; er stand den Ideen Rönne's nahe und verkehrte auch mit List, der einmal selbst nach Brüssel hinüberkam um bei den Verhandlungen mitzuwirken. Dem Minister Nothomb erklärte Arnim offen, aus politischen Gründen
*) Bunsen's Berichte, 12. Juli, 6. Dec. 1842. Aberdeen an Bunsen, 24. Mai 1843.
**) Berichte aus London, von Bunsen 17. Juli 1843, von Thile d. J. 19. April 1844.
***) Arnim an Canitz, 9. Juni 1847.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
gemäß (less obvious).*) Ueberdies war der Lord mit Guizot perſönlich befreundet; ein minder befangener Beobachter als Bunſen hätte auch leicht einſehen müſſen, daß weder England noch Oeſterreich ernſtlich beabſichtigen konnte die Politik des deutſchen Zollvereins zu unterſtützen. Das Er- ſtarken der Mitte Europas ſchien allen Mächten gleich bedrohlich.
Der preußiſche Staat ſah ſich mithin auf ſeine eigene Kraft ange- wieſen, und er beſaß, wie die Dinge lagen, nur eine Waffe um den bel- giſch-franzöſiſchen Zollverein zu verhindern: er mußte den Belgiern einen Handelsvertrag anbieten, der ihnen die Annahme des franzöſiſchen Zoll- ſyſtems unmöglich machte. Zu dieſem Zwecke wurden in Brüſſel lang- wierige Unterhandlungen eingeleitet. Ihr Verlauf bewies, daß König Leo- pold und ſein gewandter Miniſter Nothomb das Schreckbild des franzöſiſchen Zollvereins weſentlich als ein Mittel benutzten, um auf Deutſchland zu drücken. Als die Verhandlung begann, verſicherte Leopold ſeinem Neffen zu Windſor inbrünſtig, der franzöſiſche Plan ſei jetzt gänzlich aufgegeben; als ſie nachher in’s Stocken kam und Preußen ſich ſogar genöthigt ſah, die Zollbeläſtigungen des kleinen Nachbarlandes durch kräftige Retorſionen zu beantworten, da tauchte der franzöſiſche Zollvereinsgedanke plötzlich wieder auf.**) Dem Coburgiſchen Voltenſchläger konnte Niemand ſo leicht in die Karten ſehen, und da er auch auf Frankreichs Hilfe ſicher rechnen durfte, ſo befand ſich Preußen in einer ſchwierigen diplomatiſchen Lage.
Geſandter in Brüſſel war Frhr. Heinrich v. Arnim, einer von den romantiſchen Jugendfreunden des Königs. Er hatte einſt die Salons der Wilhelmſtraße durch Geiſt und Witz, durch beredte Vertheidigung der Haller’ſchen Staatslehre entzückt, neuerdings aber, belehrt durch die Er- fahrung, ſich liberaleren Anſchauungen zugewendet. Von Deutſchlands künftiger Macht und Herrlichkeit dachte er immer groß. Ebenſo ehrgeizig als talentvoll verſtand er in der vornehmen Welt ſcharf zu beobachten, auch mit Gelehrten gut auszukommen; begabte junge Männer fühlten ſich von ſeiner anregenden Liebenswürdigkeit unwiderſtehlich angezogen. Leider lag in ſeiner Natur ein phantaſtiſcher, halb närriſcher Zug, der ſich gemeinhin nur in ſonderbaren naturphiloſophiſchen Liebhabereien und in einem ſtrengen Pietismus bekundete, zuweilen aber auch politiſch gefährlich wurde. Arnim liebte die Häfen und die Fabriken zu bereiſen und ſagte ſtolz: „Nationalöko- nomie iſt meine Specialität,“***) obwohl ſeine volkswirthſchaftliche Sach- kenntniß nicht weit über das Wiſſen eines vornehmen Dilettanten hinausging; er ſtand den Ideen Rönne’s nahe und verkehrte auch mit Liſt, der einmal ſelbſt nach Brüſſel hinüberkam um bei den Verhandlungen mitzuwirken. Dem Miniſter Nothomb erklärte Arnim offen, aus politiſchen Gründen
*) Bunſen’s Berichte, 12. Juli, 6. Dec. 1842. Aberdeen an Bunſen, 24. Mai 1843.
**) Berichte aus London, von Bunſen 17. Juli 1843, von Thile d. J. 19. April 1844.
***) Arnim an Canitz, 9. Juni 1847.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0474"n="460"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">V.</hi> 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.</fw><lb/>
gemäß (<hirendition="#aq">less obvious</hi>).<noteplace="foot"n="*)">Bunſen’s Berichte, 12. Juli, 6. Dec. 1842. Aberdeen an Bunſen, 24. Mai 1843.</note> Ueberdies war der Lord mit Guizot perſönlich<lb/>
befreundet; ein minder befangener Beobachter als Bunſen hätte auch leicht<lb/>
einſehen müſſen, daß weder England noch Oeſterreich ernſtlich beabſichtigen<lb/>
konnte die Politik des deutſchen Zollvereins zu unterſtützen. Das Er-<lb/>ſtarken der Mitte Europas ſchien allen Mächten gleich bedrohlich.</p><lb/><p>Der preußiſche Staat ſah ſich mithin auf ſeine eigene Kraft ange-<lb/>
wieſen, und er beſaß, wie die Dinge lagen, nur eine Waffe um den bel-<lb/>
giſch-franzöſiſchen Zollverein zu verhindern: er mußte den Belgiern einen<lb/>
Handelsvertrag anbieten, der ihnen die Annahme des franzöſiſchen Zoll-<lb/>ſyſtems unmöglich machte. Zu dieſem Zwecke wurden in Brüſſel lang-<lb/>
wierige Unterhandlungen eingeleitet. Ihr Verlauf bewies, daß König Leo-<lb/>
pold und ſein gewandter Miniſter Nothomb das Schreckbild des franzöſiſchen<lb/>
Zollvereins weſentlich als ein Mittel benutzten, um auf Deutſchland zu<lb/>
drücken. Als die Verhandlung begann, verſicherte Leopold ſeinem Neffen<lb/>
zu Windſor inbrünſtig, der franzöſiſche Plan ſei jetzt gänzlich aufgegeben;<lb/>
als ſie nachher in’s Stocken kam und Preußen ſich ſogar genöthigt ſah, die<lb/>
Zollbeläſtigungen des kleinen Nachbarlandes durch kräftige Retorſionen zu<lb/>
beantworten, da tauchte der franzöſiſche Zollvereinsgedanke plötzlich wieder<lb/>
auf.<noteplace="foot"n="**)">Berichte aus London, von Bunſen 17. Juli 1843, von Thile d. J. 19. April<lb/>
1844.</note> Dem Coburgiſchen Voltenſchläger konnte Niemand ſo leicht in die<lb/>
Karten ſehen, und da er auch auf Frankreichs Hilfe ſicher rechnen durfte,<lb/>ſo befand ſich Preußen in einer ſchwierigen diplomatiſchen Lage.</p><lb/><p>Geſandter in Brüſſel war Frhr. Heinrich v. Arnim, einer von den<lb/>
romantiſchen Jugendfreunden des Königs. Er hatte einſt die Salons der<lb/>
Wilhelmſtraße durch Geiſt und Witz, durch beredte Vertheidigung der<lb/>
Haller’ſchen Staatslehre entzückt, neuerdings aber, belehrt durch die Er-<lb/>
fahrung, ſich liberaleren Anſchauungen zugewendet. Von Deutſchlands<lb/>
künftiger Macht und Herrlichkeit dachte er immer groß. Ebenſo ehrgeizig<lb/>
als talentvoll verſtand er in der vornehmen Welt ſcharf zu beobachten, auch<lb/>
mit Gelehrten gut auszukommen; begabte junge Männer fühlten ſich von<lb/>ſeiner anregenden Liebenswürdigkeit unwiderſtehlich angezogen. Leider lag<lb/>
in ſeiner Natur ein phantaſtiſcher, halb närriſcher Zug, der ſich gemeinhin<lb/>
nur in ſonderbaren naturphiloſophiſchen Liebhabereien und in einem ſtrengen<lb/>
Pietismus bekundete, zuweilen aber auch politiſch gefährlich wurde. Arnim<lb/>
liebte die Häfen und die Fabriken zu bereiſen und ſagte ſtolz: „Nationalöko-<lb/>
nomie iſt meine Specialität,“<noteplace="foot"n="***)">Arnim an Canitz, 9. Juni 1847.</note> obwohl ſeine volkswirthſchaftliche Sach-<lb/>
kenntniß nicht weit über das Wiſſen eines vornehmen Dilettanten hinausging;<lb/>
er ſtand den Ideen Rönne’s nahe und verkehrte auch mit Liſt, der einmal<lb/>ſelbſt nach Brüſſel hinüberkam um bei den Verhandlungen mitzuwirken.<lb/>
Dem Miniſter Nothomb erklärte Arnim offen, aus politiſchen Gründen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[460/0474]
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
gemäß (less obvious). *) Ueberdies war der Lord mit Guizot perſönlich
befreundet; ein minder befangener Beobachter als Bunſen hätte auch leicht
einſehen müſſen, daß weder England noch Oeſterreich ernſtlich beabſichtigen
konnte die Politik des deutſchen Zollvereins zu unterſtützen. Das Er-
ſtarken der Mitte Europas ſchien allen Mächten gleich bedrohlich.
Der preußiſche Staat ſah ſich mithin auf ſeine eigene Kraft ange-
wieſen, und er beſaß, wie die Dinge lagen, nur eine Waffe um den bel-
giſch-franzöſiſchen Zollverein zu verhindern: er mußte den Belgiern einen
Handelsvertrag anbieten, der ihnen die Annahme des franzöſiſchen Zoll-
ſyſtems unmöglich machte. Zu dieſem Zwecke wurden in Brüſſel lang-
wierige Unterhandlungen eingeleitet. Ihr Verlauf bewies, daß König Leo-
pold und ſein gewandter Miniſter Nothomb das Schreckbild des franzöſiſchen
Zollvereins weſentlich als ein Mittel benutzten, um auf Deutſchland zu
drücken. Als die Verhandlung begann, verſicherte Leopold ſeinem Neffen
zu Windſor inbrünſtig, der franzöſiſche Plan ſei jetzt gänzlich aufgegeben;
als ſie nachher in’s Stocken kam und Preußen ſich ſogar genöthigt ſah, die
Zollbeläſtigungen des kleinen Nachbarlandes durch kräftige Retorſionen zu
beantworten, da tauchte der franzöſiſche Zollvereinsgedanke plötzlich wieder
auf. **) Dem Coburgiſchen Voltenſchläger konnte Niemand ſo leicht in die
Karten ſehen, und da er auch auf Frankreichs Hilfe ſicher rechnen durfte,
ſo befand ſich Preußen in einer ſchwierigen diplomatiſchen Lage.
Geſandter in Brüſſel war Frhr. Heinrich v. Arnim, einer von den
romantiſchen Jugendfreunden des Königs. Er hatte einſt die Salons der
Wilhelmſtraße durch Geiſt und Witz, durch beredte Vertheidigung der
Haller’ſchen Staatslehre entzückt, neuerdings aber, belehrt durch die Er-
fahrung, ſich liberaleren Anſchauungen zugewendet. Von Deutſchlands
künftiger Macht und Herrlichkeit dachte er immer groß. Ebenſo ehrgeizig
als talentvoll verſtand er in der vornehmen Welt ſcharf zu beobachten, auch
mit Gelehrten gut auszukommen; begabte junge Männer fühlten ſich von
ſeiner anregenden Liebenswürdigkeit unwiderſtehlich angezogen. Leider lag
in ſeiner Natur ein phantaſtiſcher, halb närriſcher Zug, der ſich gemeinhin
nur in ſonderbaren naturphiloſophiſchen Liebhabereien und in einem ſtrengen
Pietismus bekundete, zuweilen aber auch politiſch gefährlich wurde. Arnim
liebte die Häfen und die Fabriken zu bereiſen und ſagte ſtolz: „Nationalöko-
nomie iſt meine Specialität,“ ***) obwohl ſeine volkswirthſchaftliche Sach-
kenntniß nicht weit über das Wiſſen eines vornehmen Dilettanten hinausging;
er ſtand den Ideen Rönne’s nahe und verkehrte auch mit Liſt, der einmal
ſelbſt nach Brüſſel hinüberkam um bei den Verhandlungen mitzuwirken.
Dem Miniſter Nothomb erklärte Arnim offen, aus politiſchen Gründen
*) Bunſen’s Berichte, 12. Juli, 6. Dec. 1842. Aberdeen an Bunſen, 24. Mai 1843.
**) Berichte aus London, von Bunſen 17. Juli 1843, von Thile d. J. 19. April
1844.
***) Arnim an Canitz, 9. Juni 1847.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/474>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.