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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
und Gesangvereine, in denen sie noch ihre vaterländischen Erinnerungen
pflegten, bedeuteten für die Politik gar nichts. Grade in diesen Jahren
zeigten die Yankees den deutschen Einwanderern fast nur Hohn und
Verachtung.

In Deutschland war man noch fast rathlos. Einige Redner in
den süddeutschen Kammern empfahlen zwar die Auswanderung als letztes
Heilmittel wider die angeblich drohende Uebervölkerung. Mehrere be-
drängte Gemeinden in Sachsen, Hessen, Baden gaben ihren Armen
sogar Reisegeld und Wegzehrung für die Fahrt nach dem gelobten Westen.
Die Regierungen aber erkannten, welchen unersetzlichen Verlust das Vater-
land durch die Auswanderung erlitt, und Minister Bodelschwingh sagte
gradezu: wir dürfen dies nationale Unglück mindestens nicht fördern.
Andererseits fühlten sie alle, daß sie den unbändigen Wandertrieb nicht
hemmen, höchstens die Agenten, deren verlockende Anzeigen schon in jedem
Dorfwirthshause Süd- und Mitteldeutschlands aushingen, schärfer be-
aufsichtigen konnten. Was sollte nun geschehen um die Auswanderer zu
beschützen und dem alten Volksthum zu erhalten? Eichhorn suchte die
Frage in einer geistvollen Denkschrift zu beantworten (Febr. 1845). Der
gewiegte Zollvereinspolitiker sah wohl ein, daß Deutschland ohne See-
macht keine eigenen Kolonien erwerben konnte; trotzdem hoffte er "die
Auswanderung dem Vaterlande wieder nutzbar zu machen", wenn sie,
durch die preußischen Consuln geleitet, sich in zusammenhängenden Massen
ansiedelte und dann Kirche und Schule, unter Beihilfe des Mutterlandes,
für die Erhaltung deutscher Sprache und Sitte wirkten. Selbst diese
anspruchslosen Vorschläge schienen dem Auswärtigen Amte gefährlich, und
leider waren seine Bedenken nicht ohne Grunde. Niemand kann zwei
Vaterländer haben, und es frommte wahrlich nicht, den Deutschen, die
schon daheim in so unklaren politischen Verhältnissen lebten, den Ernst
des Sta[a]tsgedankens noch mehr zu verdunkeln. Jede Nationalität wird
zum Zwitter, wenn sie sich von ihrem Staate löst; über die abtrünnigen
Söhne des Vaterlandes, die freiwillig amerikanische Bürger wurden, durfte
Preußen keinerlei Schutzrecht ausüben, sobald die Unionsregierung, wie sich
leicht voraussehen ließ, Einspruch erhob.

Verwandte Gedanken regten sich unter den Auswanderern selbst.
In Texas entstand ein freimaurerischer Orden Teutonia, der seine Mit-
glieder zur Wahrung der nationalen Eigenart verpflichtete. Ein höheres
Ziel setzte sich der "Verein zum Schutze der deutschen Einwanderung in
Texas"; er hoffte eine selbständige Kolonie, vielleicht gar einen deutschen
Staat zu gründen, weil Texas, von Mexiko losgerissen, noch nicht zu
fester politischer Ordnung gelangt war. Die Herzoge von Nassau, Co-
burg, Meiningen, der Fürst von Rudolstadt, der Landgraf von Hom-
burg sowie neunzehn Fürsten und Grafen vom mediatisirten Reichsadel
gehörten ihm an; Fürst Leiningen, der vielgeschäftige Stiefbruder der

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
und Geſangvereine, in denen ſie noch ihre vaterländiſchen Erinnerungen
pflegten, bedeuteten für die Politik gar nichts. Grade in dieſen Jahren
zeigten die Yankees den deutſchen Einwanderern faſt nur Hohn und
Verachtung.

In Deutſchland war man noch faſt rathlos. Einige Redner in
den ſüddeutſchen Kammern empfahlen zwar die Auswanderung als letztes
Heilmittel wider die angeblich drohende Uebervölkerung. Mehrere be-
drängte Gemeinden in Sachſen, Heſſen, Baden gaben ihren Armen
ſogar Reiſegeld und Wegzehrung für die Fahrt nach dem gelobten Weſten.
Die Regierungen aber erkannten, welchen unerſetzlichen Verluſt das Vater-
land durch die Auswanderung erlitt, und Miniſter Bodelſchwingh ſagte
gradezu: wir dürfen dies nationale Unglück mindeſtens nicht fördern.
Andererſeits fühlten ſie alle, daß ſie den unbändigen Wandertrieb nicht
hemmen, höchſtens die Agenten, deren verlockende Anzeigen ſchon in jedem
Dorfwirthshauſe Süd- und Mitteldeutſchlands aushingen, ſchärfer be-
aufſichtigen konnten. Was ſollte nun geſchehen um die Auswanderer zu
beſchützen und dem alten Volksthum zu erhalten? Eichhorn ſuchte die
Frage in einer geiſtvollen Denkſchrift zu beantworten (Febr. 1845). Der
gewiegte Zollvereinspolitiker ſah wohl ein, daß Deutſchland ohne See-
macht keine eigenen Kolonien erwerben konnte; trotzdem hoffte er „die
Auswanderung dem Vaterlande wieder nutzbar zu machen“, wenn ſie,
durch die preußiſchen Conſuln geleitet, ſich in zuſammenhängenden Maſſen
anſiedelte und dann Kirche und Schule, unter Beihilfe des Mutterlandes,
für die Erhaltung deutſcher Sprache und Sitte wirkten. Selbſt dieſe
anſpruchsloſen Vorſchläge ſchienen dem Auswärtigen Amte gefährlich, und
leider waren ſeine Bedenken nicht ohne Grunde. Niemand kann zwei
Vaterländer haben, und es frommte wahrlich nicht, den Deutſchen, die
ſchon daheim in ſo unklaren politiſchen Verhältniſſen lebten, den Ernſt
des Sta[a]tsgedankens noch mehr zu verdunkeln. Jede Nationalität wird
zum Zwitter, wenn ſie ſich von ihrem Staate löſt; über die abtrünnigen
Söhne des Vaterlandes, die freiwillig amerikaniſche Bürger wurden, durfte
Preußen keinerlei Schutzrecht ausüben, ſobald die Unionsregierung, wie ſich
leicht vorausſehen ließ, Einſpruch erhob.

Verwandte Gedanken regten ſich unter den Auswanderern ſelbſt.
In Texas entſtand ein freimaureriſcher Orden Teutonia, der ſeine Mit-
glieder zur Wahrung der nationalen Eigenart verpflichtete. Ein höheres
Ziel ſetzte ſich der „Verein zum Schutze der deutſchen Einwanderung in
Texas“; er hoffte eine ſelbſtändige Kolonie, vielleicht gar einen deutſchen
Staat zu gründen, weil Texas, von Mexiko losgeriſſen, noch nicht zu
feſter politiſcher Ordnung gelangt war. Die Herzoge von Naſſau, Co-
burg, Meiningen, der Fürſt von Rudolſtadt, der Landgraf von Hom-
burg ſowie neunzehn Fürſten und Grafen vom mediatiſirten Reichsadel
gehörten ihm an; Fürſt Leiningen, der vielgeſchäftige Stiefbruder der

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[492/0506] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. und Geſangvereine, in denen ſie noch ihre vaterländiſchen Erinnerungen pflegten, bedeuteten für die Politik gar nichts. Grade in dieſen Jahren zeigten die Yankees den deutſchen Einwanderern faſt nur Hohn und Verachtung. In Deutſchland war man noch faſt rathlos. Einige Redner in den ſüddeutſchen Kammern empfahlen zwar die Auswanderung als letztes Heilmittel wider die angeblich drohende Uebervölkerung. Mehrere be- drängte Gemeinden in Sachſen, Heſſen, Baden gaben ihren Armen ſogar Reiſegeld und Wegzehrung für die Fahrt nach dem gelobten Weſten. Die Regierungen aber erkannten, welchen unerſetzlichen Verluſt das Vater- land durch die Auswanderung erlitt, und Miniſter Bodelſchwingh ſagte gradezu: wir dürfen dies nationale Unglück mindeſtens nicht fördern. Andererſeits fühlten ſie alle, daß ſie den unbändigen Wandertrieb nicht hemmen, höchſtens die Agenten, deren verlockende Anzeigen ſchon in jedem Dorfwirthshauſe Süd- und Mitteldeutſchlands aushingen, ſchärfer be- aufſichtigen konnten. Was ſollte nun geſchehen um die Auswanderer zu beſchützen und dem alten Volksthum zu erhalten? Eichhorn ſuchte die Frage in einer geiſtvollen Denkſchrift zu beantworten (Febr. 1845). Der gewiegte Zollvereinspolitiker ſah wohl ein, daß Deutſchland ohne See- macht keine eigenen Kolonien erwerben konnte; trotzdem hoffte er „die Auswanderung dem Vaterlande wieder nutzbar zu machen“, wenn ſie, durch die preußiſchen Conſuln geleitet, ſich in zuſammenhängenden Maſſen anſiedelte und dann Kirche und Schule, unter Beihilfe des Mutterlandes, für die Erhaltung deutſcher Sprache und Sitte wirkten. Selbſt dieſe anſpruchsloſen Vorſchläge ſchienen dem Auswärtigen Amte gefährlich, und leider waren ſeine Bedenken nicht ohne Grunde. Niemand kann zwei Vaterländer haben, und es frommte wahrlich nicht, den Deutſchen, die ſchon daheim in ſo unklaren politiſchen Verhältniſſen lebten, den Ernſt des Staatsgedankens noch mehr zu verdunkeln. Jede Nationalität wird zum Zwitter, wenn ſie ſich von ihrem Staate löſt; über die abtrünnigen Söhne des Vaterlandes, die freiwillig amerikaniſche Bürger wurden, durfte Preußen keinerlei Schutzrecht ausüben, ſobald die Unionsregierung, wie ſich leicht vorausſehen ließ, Einſpruch erhob. Verwandte Gedanken regten ſich unter den Auswanderern ſelbſt. In Texas entſtand ein freimaureriſcher Orden Teutonia, der ſeine Mit- glieder zur Wahrung der nationalen Eigenart verpflichtete. Ein höheres Ziel ſetzte ſich der „Verein zum Schutze der deutſchen Einwanderung in Texas“; er hoffte eine ſelbſtändige Kolonie, vielleicht gar einen deutſchen Staat zu gründen, weil Texas, von Mexiko losgeriſſen, noch nicht zu feſter politiſcher Ordnung gelangt war. Die Herzoge von Naſſau, Co- burg, Meiningen, der Fürſt von Rudolſtadt, der Landgraf von Hom- burg ſowie neunzehn Fürſten und Grafen vom mediatiſirten Reichsadel gehörten ihm an; Fürſt Leiningen, der vielgeſchäftige Stiefbruder der

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/506>, abgerufen am 22.11.2024.