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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Zweijährige Dienstzeit. Linie und Landwehr.
arbeitung der Feldgeschütze, die dringend nöthigen Soldzulagen für ältere
Unteroffiziere großen Aufwand forderten. Dafür suchte man im Einzelnen
ängstlich, oft zum Schaden des Dienstes zu sparen. Sogar die Uebungen
der Linientruppen wurden verkürzt, und selbst für den Kriegsfall versprach
man sich beträchtliche Ersparungen von einem neu ausgearbeiteten Mo-
bilmachungsplane.*) Als der Kriegsminister zum zweiten male zurücktrat,
da war das Heer treu wie Gold und nach wie vor sehr tüchtig, aber in
seiner Organisation so mangelhaft, daß ihm in unruhiger Zeit peinliche
Erfahrungen nicht erspart bleiben konnten.

Weil er seine Landwehr überschätzte hatte Boyen einst zum ersten
male sein Amt aufgeben müssen, und seltsamerweise war er in zwanzig
Friedensjahren von diesem alten Lieblingsgedanken noch nicht ganz los-
gekommen. Nichts lag dem genialen Manne ferner als die laienhafte
Schwärmerei für ein ungeschultes Volksheer. Wenn man ihn fragte,
warum er nicht einfach die improvisirte Landwehr des Jahres 1813 bei-
behalten habe, dann antwortete er scharf: "weil ich etwas Besseres wollte
als was die Noth geboren hatte." Gleichwohl verlangte er, daß die Land-
wehr, die doch jetzt nur aus gedienten Soldaten bestand, unabhängig neben
der Linie stehen müsse. "Es liegt im Geiste der Landwehr", so sagte er
noch in seiner letzten Denkschrift, "daß ihre Offiziere bis zum Hauptmann
aus ihr selbst hervorgehen;" jungen Leutnants von der Linie wollte er
die Führung alter Wehrmänner nicht anvertrauen. Unter den fast durch-
weg patriotischen und wissenschaftlich gebildeten Landwehroffizieren befanden
sich aber nach so langer Friedenszeit nur noch wenige streng militärisch
geschulte, und unter diesen wieder nur wenige, die sich jederzeit von den
Pflichten ihres bürgerlichen Berufes befreien konnten um der Fahne zu
folgen. Da die Landwehr auch an brauchbaren Unteroffizieren Mangel litt,
so bedurfte sie durchaus einer großen Zahl abcommandirter Linienoffiziere,
zumal für die verantwortlichen Stellen der Compagnieführer. Darum
hatte der alte König immer, gegen Boyen's Widerspruch, die geschlossene
Einheit des Heeres, die feste Verbindung zwischen Linie und Landwehr
zu wahren gesucht. Diese Meinung vertraten auch jetzt noch nachdrücklich
der Prinz von Preußen und der vertraute General a la suite v. Forstner.
Der neue König aber ließ den Kriegsminister gewähren, und Boyen er-
nannte, im festen Vertrauen auf die bürgerliche "Intelligenz", nach und
nach eine große Anzahl von Landwehrhauptleuten -- bis sich dann in
den Revolutionsjahren herausstellte, daß grade in den westlichen Provinzen,
die sich so gern ihrer überlegenen Bildung rühmten, die Menge der unab-
kömmlichen oder unverwendbaren Landwehroffiziere besonders groß war.

Erstaunlich doch, wie der preußische Organisator auf diesem Gebiete

*) General v. Reyher, Denkschrift über den Mobilmachungsplan (an Thile), 9. April
1847.
38*

Zweijährige Dienſtzeit. Linie und Landwehr.
arbeitung der Feldgeſchütze, die dringend nöthigen Soldzulagen für ältere
Unteroffiziere großen Aufwand forderten. Dafür ſuchte man im Einzelnen
ängſtlich, oft zum Schaden des Dienſtes zu ſparen. Sogar die Uebungen
der Linientruppen wurden verkürzt, und ſelbſt für den Kriegsfall verſprach
man ſich beträchtliche Erſparungen von einem neu ausgearbeiteten Mo-
bilmachungsplane.*) Als der Kriegsminiſter zum zweiten male zurücktrat,
da war das Heer treu wie Gold und nach wie vor ſehr tüchtig, aber in
ſeiner Organiſation ſo mangelhaft, daß ihm in unruhiger Zeit peinliche
Erfahrungen nicht erſpart bleiben konnten.

Weil er ſeine Landwehr überſchätzte hatte Boyen einſt zum erſten
male ſein Amt aufgeben müſſen, und ſeltſamerweiſe war er in zwanzig
Friedensjahren von dieſem alten Lieblingsgedanken noch nicht ganz los-
gekommen. Nichts lag dem genialen Manne ferner als die laienhafte
Schwärmerei für ein ungeſchultes Volksheer. Wenn man ihn fragte,
warum er nicht einfach die improviſirte Landwehr des Jahres 1813 bei-
behalten habe, dann antwortete er ſcharf: „weil ich etwas Beſſeres wollte
als was die Noth geboren hatte.“ Gleichwohl verlangte er, daß die Land-
wehr, die doch jetzt nur aus gedienten Soldaten beſtand, unabhängig neben
der Linie ſtehen müſſe. „Es liegt im Geiſte der Landwehr“, ſo ſagte er
noch in ſeiner letzten Denkſchrift, „daß ihre Offiziere bis zum Hauptmann
aus ihr ſelbſt hervorgehen;“ jungen Leutnants von der Linie wollte er
die Führung alter Wehrmänner nicht anvertrauen. Unter den faſt durch-
weg patriotiſchen und wiſſenſchaftlich gebildeten Landwehroffizieren befanden
ſich aber nach ſo langer Friedenszeit nur noch wenige ſtreng militäriſch
geſchulte, und unter dieſen wieder nur wenige, die ſich jederzeit von den
Pflichten ihres bürgerlichen Berufes befreien konnten um der Fahne zu
folgen. Da die Landwehr auch an brauchbaren Unteroffizieren Mangel litt,
ſo bedurfte ſie durchaus einer großen Zahl abcommandirter Linienoffiziere,
zumal für die verantwortlichen Stellen der Compagnieführer. Darum
hatte der alte König immer, gegen Boyen’s Widerſpruch, die geſchloſſene
Einheit des Heeres, die feſte Verbindung zwiſchen Linie und Landwehr
zu wahren geſucht. Dieſe Meinung vertraten auch jetzt noch nachdrücklich
der Prinz von Preußen und der vertraute General à la suite v. Forſtner.
Der neue König aber ließ den Kriegsminiſter gewähren, und Boyen er-
nannte, im feſten Vertrauen auf die bürgerliche „Intelligenz“, nach und
nach eine große Anzahl von Landwehrhauptleuten — bis ſich dann in
den Revolutionsjahren herausſtellte, daß grade in den weſtlichen Provinzen,
die ſich ſo gern ihrer überlegenen Bildung rühmten, die Menge der unab-
kömmlichen oder unverwendbaren Landwehroffiziere beſonders groß war.

Erſtaunlich doch, wie der preußiſche Organiſator auf dieſem Gebiete

*) General v. Reyher, Denkſchrift über den Mobilmachungsplan (an Thile), 9. April
1847.
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[595/0609] Zweijährige Dienſtzeit. Linie und Landwehr. arbeitung der Feldgeſchütze, die dringend nöthigen Soldzulagen für ältere Unteroffiziere großen Aufwand forderten. Dafür ſuchte man im Einzelnen ängſtlich, oft zum Schaden des Dienſtes zu ſparen. Sogar die Uebungen der Linientruppen wurden verkürzt, und ſelbſt für den Kriegsfall verſprach man ſich beträchtliche Erſparungen von einem neu ausgearbeiteten Mo- bilmachungsplane. *) Als der Kriegsminiſter zum zweiten male zurücktrat, da war das Heer treu wie Gold und nach wie vor ſehr tüchtig, aber in ſeiner Organiſation ſo mangelhaft, daß ihm in unruhiger Zeit peinliche Erfahrungen nicht erſpart bleiben konnten. Weil er ſeine Landwehr überſchätzte hatte Boyen einſt zum erſten male ſein Amt aufgeben müſſen, und ſeltſamerweiſe war er in zwanzig Friedensjahren von dieſem alten Lieblingsgedanken noch nicht ganz los- gekommen. Nichts lag dem genialen Manne ferner als die laienhafte Schwärmerei für ein ungeſchultes Volksheer. Wenn man ihn fragte, warum er nicht einfach die improviſirte Landwehr des Jahres 1813 bei- behalten habe, dann antwortete er ſcharf: „weil ich etwas Beſſeres wollte als was die Noth geboren hatte.“ Gleichwohl verlangte er, daß die Land- wehr, die doch jetzt nur aus gedienten Soldaten beſtand, unabhängig neben der Linie ſtehen müſſe. „Es liegt im Geiſte der Landwehr“, ſo ſagte er noch in ſeiner letzten Denkſchrift, „daß ihre Offiziere bis zum Hauptmann aus ihr ſelbſt hervorgehen;“ jungen Leutnants von der Linie wollte er die Führung alter Wehrmänner nicht anvertrauen. Unter den faſt durch- weg patriotiſchen und wiſſenſchaftlich gebildeten Landwehroffizieren befanden ſich aber nach ſo langer Friedenszeit nur noch wenige ſtreng militäriſch geſchulte, und unter dieſen wieder nur wenige, die ſich jederzeit von den Pflichten ihres bürgerlichen Berufes befreien konnten um der Fahne zu folgen. Da die Landwehr auch an brauchbaren Unteroffizieren Mangel litt, ſo bedurfte ſie durchaus einer großen Zahl abcommandirter Linienoffiziere, zumal für die verantwortlichen Stellen der Compagnieführer. Darum hatte der alte König immer, gegen Boyen’s Widerſpruch, die geſchloſſene Einheit des Heeres, die feſte Verbindung zwiſchen Linie und Landwehr zu wahren geſucht. Dieſe Meinung vertraten auch jetzt noch nachdrücklich der Prinz von Preußen und der vertraute General à la suite v. Forſtner. Der neue König aber ließ den Kriegsminiſter gewähren, und Boyen er- nannte, im feſten Vertrauen auf die bürgerliche „Intelligenz“, nach und nach eine große Anzahl von Landwehrhauptleuten — bis ſich dann in den Revolutionsjahren herausſtellte, daß grade in den weſtlichen Provinzen, die ſich ſo gern ihrer überlegenen Bildung rühmten, die Menge der unab- kömmlichen oder unverwendbaren Landwehroffiziere beſonders groß war. Erſtaunlich doch, wie der preußiſche Organiſator auf dieſem Gebiete *) General v. Reyher, Denkſchrift über den Mobilmachungsplan (an Thile), 9. April 1847. 38*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/609>, abgerufen am 23.11.2024.