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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 9. Der Niedergang des Deutschen Bundes.
Berlin; denn ohne die sichere Hilfe der beiden Großmächte wollte der
Kurfürst nichts wagen, von Metternich hatte er sich auch sogleich, wie schon
oftmals früher, brieflich Rath erbeten. König Friedrich Wilhelm schwankte
keinen Augenblick, er nannte den Hessen kurzweg einen bösen Mann und
wollte mit diesen Umsturzplänen nichts zu schaffen haben. Einer Wieder-
holung des welfischen Staatsstreichs war die aufgeregte Zeit wahrlich nicht
günstig. Demgemäß sendete Canitz schon am 30. Nov. eine Weisung an
Galen, die dem hessischen Hofe mitgetheilt wurde. Sie warnte dringend
vor ungesetzlichen Schritten: fände der neue Herr einzelne Sätze der ra-
dicalen Verfassung ganz unerträglich, so möge er den Bundestag um die
Verbürgung des Grundgesetzes bitten; dann böte sich von selbst die Ge-
legenheit, mit den Landständen über einige Veränderungen friedlich zu ver-
handeln. Canitz's Rath war ebenso wohlgemeint, wie seine gleichzeitigen
Mahnungen an den dänischen Hof; er konnte, rechtzeitig befolgt, dem
hessischen Lande traurige Kämpfe ersparen. Doch in Cassel wie in Kopen-
hagen waren die Menschen stärker als die Vernunftgründe. Einen bru-
talen Staatsstreich mit Beihilfe der beiden Großmächte hätte der Kurfürst
wohl gewagt, aber zu schwierigen Verhandlungen mit dem Bundestage
und den Landständen zugleich besaß er weder den Muth, noch den Verstand,
noch den guten Willen. In Canitz's Sinne sprach auch General Gerlach,
der die Beleidsbezeigung des Königs überbrachte; der gewann einen sehr
traurigen Eindruck vom Casseler Hofe, er fürchtete, dieser Fürst hätte "ein
böses Herz, absolutistische Gesinnung, Habsucht und Mangel an Liebe zu
seinem Lande". Noch während er in Cassel weilte, erschien, am 11. Dec.,
Hofrath Philippsberg aus Wien mit der Antwort Metternich's und einem
begleitenden Gutachten. Diese österreichische Denkschrift stimmte fast wört-
lich mit Canitz's Depesche überein und war also vermuthlich mit dem
Berliner Hofe verabredet.*) Welch ein Wandel der Zeiten! Im Jahre
1831 hatte Metternich eine Bundesgarantie für diese radicale Verfassung
entschieden zurückgewiesen,**) und ein an den Höfen allgemein geglaubtes
Gerücht behauptete, daß er auch später noch mit dem Prinzregenten wegen
eines Staatsstreiches verhandelt hätte. Und jetzt rieth er dem neuen
Kurfürsten selbst, die Bürgschaft des Bundes für das Grundgesetz nach-
zusuchen, allerdings unter Bedingungen, die sich noch nicht absehen ließen.
Von einem gewaltsamen Umsturz wollte er nichts mehr hören. Durch
diese Erklärungen der beiden Großmächte war der hessische Staatsstreich
vorläufig abgewendet; ein mahnender Brief, den der Prinzgemahl Albert
am 12. Dec. an den König von Preußen sendete, traf erst lange nach der
Entscheidung ein.

Sichtlich enttäuscht beschied der Kurfürst wenige Stunden nach Ein-

*) Galen's Berichte, 4. 8. 11. 12. Dec. 1847.
**) S. o. IV. 137.

V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Berlin; denn ohne die ſichere Hilfe der beiden Großmächte wollte der
Kurfürſt nichts wagen, von Metternich hatte er ſich auch ſogleich, wie ſchon
oftmals früher, brieflich Rath erbeten. König Friedrich Wilhelm ſchwankte
keinen Augenblick, er nannte den Heſſen kurzweg einen böſen Mann und
wollte mit dieſen Umſturzplänen nichts zu ſchaffen haben. Einer Wieder-
holung des welfiſchen Staatsſtreichs war die aufgeregte Zeit wahrlich nicht
günſtig. Demgemäß ſendete Canitz ſchon am 30. Nov. eine Weiſung an
Galen, die dem heſſiſchen Hofe mitgetheilt wurde. Sie warnte dringend
vor ungeſetzlichen Schritten: fände der neue Herr einzelne Sätze der ra-
dicalen Verfaſſung ganz unerträglich, ſo möge er den Bundestag um die
Verbürgung des Grundgeſetzes bitten; dann böte ſich von ſelbſt die Ge-
legenheit, mit den Landſtänden über einige Veränderungen friedlich zu ver-
handeln. Canitz’s Rath war ebenſo wohlgemeint, wie ſeine gleichzeitigen
Mahnungen an den däniſchen Hof; er konnte, rechtzeitig befolgt, dem
heſſiſchen Lande traurige Kämpfe erſparen. Doch in Caſſel wie in Kopen-
hagen waren die Menſchen ſtärker als die Vernunftgründe. Einen bru-
talen Staatsſtreich mit Beihilfe der beiden Großmächte hätte der Kurfürſt
wohl gewagt, aber zu ſchwierigen Verhandlungen mit dem Bundestage
und den Landſtänden zugleich beſaß er weder den Muth, noch den Verſtand,
noch den guten Willen. In Canitz’s Sinne ſprach auch General Gerlach,
der die Beleidsbezeigung des Königs überbrachte; der gewann einen ſehr
traurigen Eindruck vom Caſſeler Hofe, er fürchtete, dieſer Fürſt hätte „ein
böſes Herz, abſolutiſtiſche Geſinnung, Habſucht und Mangel an Liebe zu
ſeinem Lande“. Noch während er in Caſſel weilte, erſchien, am 11. Dec.,
Hofrath Philippsberg aus Wien mit der Antwort Metternich’s und einem
begleitenden Gutachten. Dieſe öſterreichiſche Denkſchrift ſtimmte faſt wört-
lich mit Canitz’s Depeſche überein und war alſo vermuthlich mit dem
Berliner Hofe verabredet.*) Welch ein Wandel der Zeiten! Im Jahre
1831 hatte Metternich eine Bundesgarantie für dieſe radicale Verfaſſung
entſchieden zurückgewieſen,**) und ein an den Höfen allgemein geglaubtes
Gerücht behauptete, daß er auch ſpäter noch mit dem Prinzregenten wegen
eines Staatsſtreiches verhandelt hätte. Und jetzt rieth er dem neuen
Kurfürſten ſelbſt, die Bürgſchaft des Bundes für das Grundgeſetz nach-
zuſuchen, allerdings unter Bedingungen, die ſich noch nicht abſehen ließen.
Von einem gewaltſamen Umſturz wollte er nichts mehr hören. Durch
dieſe Erklärungen der beiden Großmächte war der heſſiſche Staatsſtreich
vorläufig abgewendet; ein mahnender Brief, den der Prinzgemahl Albert
am 12. Dec. an den König von Preußen ſendete, traf erſt lange nach der
Entſcheidung ein.

Sichtlich enttäuſcht beſchied der Kurfürſt wenige Stunden nach Ein-

*) Galen’s Berichte, 4. 8. 11. 12. Dec. 1847.
**) S. o. IV. 137.
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[668/0682] V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes. Berlin; denn ohne die ſichere Hilfe der beiden Großmächte wollte der Kurfürſt nichts wagen, von Metternich hatte er ſich auch ſogleich, wie ſchon oftmals früher, brieflich Rath erbeten. König Friedrich Wilhelm ſchwankte keinen Augenblick, er nannte den Heſſen kurzweg einen böſen Mann und wollte mit dieſen Umſturzplänen nichts zu ſchaffen haben. Einer Wieder- holung des welfiſchen Staatsſtreichs war die aufgeregte Zeit wahrlich nicht günſtig. Demgemäß ſendete Canitz ſchon am 30. Nov. eine Weiſung an Galen, die dem heſſiſchen Hofe mitgetheilt wurde. Sie warnte dringend vor ungeſetzlichen Schritten: fände der neue Herr einzelne Sätze der ra- dicalen Verfaſſung ganz unerträglich, ſo möge er den Bundestag um die Verbürgung des Grundgeſetzes bitten; dann böte ſich von ſelbſt die Ge- legenheit, mit den Landſtänden über einige Veränderungen friedlich zu ver- handeln. Canitz’s Rath war ebenſo wohlgemeint, wie ſeine gleichzeitigen Mahnungen an den däniſchen Hof; er konnte, rechtzeitig befolgt, dem heſſiſchen Lande traurige Kämpfe erſparen. Doch in Caſſel wie in Kopen- hagen waren die Menſchen ſtärker als die Vernunftgründe. Einen bru- talen Staatsſtreich mit Beihilfe der beiden Großmächte hätte der Kurfürſt wohl gewagt, aber zu ſchwierigen Verhandlungen mit dem Bundestage und den Landſtänden zugleich beſaß er weder den Muth, noch den Verſtand, noch den guten Willen. In Canitz’s Sinne ſprach auch General Gerlach, der die Beleidsbezeigung des Königs überbrachte; der gewann einen ſehr traurigen Eindruck vom Caſſeler Hofe, er fürchtete, dieſer Fürſt hätte „ein böſes Herz, abſolutiſtiſche Geſinnung, Habſucht und Mangel an Liebe zu ſeinem Lande“. Noch während er in Caſſel weilte, erſchien, am 11. Dec., Hofrath Philippsberg aus Wien mit der Antwort Metternich’s und einem begleitenden Gutachten. Dieſe öſterreichiſche Denkſchrift ſtimmte faſt wört- lich mit Canitz’s Depeſche überein und war alſo vermuthlich mit dem Berliner Hofe verabredet. *) Welch ein Wandel der Zeiten! Im Jahre 1831 hatte Metternich eine Bundesgarantie für dieſe radicale Verfaſſung entſchieden zurückgewieſen, **) und ein an den Höfen allgemein geglaubtes Gerücht behauptete, daß er auch ſpäter noch mit dem Prinzregenten wegen eines Staatsſtreiches verhandelt hätte. Und jetzt rieth er dem neuen Kurfürſten ſelbſt, die Bürgſchaft des Bundes für das Grundgeſetz nach- zuſuchen, allerdings unter Bedingungen, die ſich noch nicht abſehen ließen. Von einem gewaltſamen Umſturz wollte er nichts mehr hören. Durch dieſe Erklärungen der beiden Großmächte war der heſſiſche Staatsſtreich vorläufig abgewendet; ein mahnender Brief, den der Prinzgemahl Albert am 12. Dec. an den König von Preußen ſendete, traf erſt lange nach der Entſcheidung ein. Sichtlich enttäuſcht beſchied der Kurfürſt wenige Stunden nach Ein- *) Galen’s Berichte, 4. 8. 11. 12. Dec. 1847. **) S. o. IV. 137.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/682>, abgerufen am 22.11.2024.