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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
Das Protokoll sagte in seiner dehnbaren Fassung sehr wenig; denn führte
der Londoner Vertrag zu einem europäischen Kriege, so konnte Preußen sich
dem Streite unmöglich entziehen. Unvergeßlich aber blieb die traurige Er-
fahrung, daß der Staat, der die verwegensten Rathschläge gab, sich im
Handeln unter allen am kleinmüthigsten zeigte. --



Durch den Julivertrag wurde der ägyptische Streit zu einer euro-
päischen Frage, und mit einem male sah sich Preußen, dem diese orien-
talischen Händel so fern lagen, in die vorderste Reihe der Streitenden
geschoben. Mit der einzigen Ausnahme Rußlands beabsichtigte keine der
vier Mächte den französischen Stolz irgend zu kränken. Sie alle meinten,
ihr eigenmächtiges Verfahren sei durch die beständig ausweichende, zuwar-
tende Haltung der französischen Diplomatie vollauf gerechtfertigt; hatte
doch Guizot in den letzten Tagen, als Palmerston ihn fragte, ob Frank-
reich nicht mindestens die gänzliche Losreißung Aegyptens verhindern wolle,
nur achselzuckend geantwortet: alors comme alors!*) Sie alle glaubten,
wie Bülow sagte, Thiers würde gute Miene zum bösen Spiele machen mit An-
stand zurückweichen und sich wohl hüten, im Bunde mit dem ägyptischen
Rebellen der offenbaren Uebermacht zu trotzen.**) An dem nämlichen Tage,
da der Vertrag unterzeichnet wurde, schrieb Palmerston mit ungewohnter
Höflichkeit an Guizot: die vier Mächte hätten sich nur mit tiefem Bedauern,
nur um doch etwas zu Stande zu bringen, von Frankreich getrennt; sie hoff-
ten, diese Trennung würde nur von kurzer Dauer sein und den Gefühlen
aufrichtiger Freundschaft keinen Eintrag thun; sie hofften sogar, Frank-
reich würde seinen großen Einfluß in Alexandria benutzen um ihnen seinen
moralischen Beistand zu leihen und Mehemed Ali zur Nachgiebigkeit zu
bewegen.***) Noch friedfertiger redete Preußen. Bülow schrieb nach Paris:
"wir mußten uns der Form nach von Frankreich trennen, hoffen aber
in der Sache selbst auf dessen hilfreiche Mitwirkung;" und Minister Werther
schlug vor, man möge den Tuilerienhof noch vor der Ratification des
Vertrags zum Beitritt einladen, damit jeder Schein eines Zerwürfnisses
vermieden würde.+) Der österreichische Staatskanzler hegte allerdings
einen tiefen Haß gegen Thiers, "die wahre Verkörperung der Revolution
von 1830." In seinen vertrauten Briefen schalt er maßlos auf "diese
in jeder Hinsicht elende Persönlichkeit", die alle schlechten Leidenschaften
der Franzosen wachrufe und wie ein Trinker sich nur durch Branntwein
stärken könne. Er sagte mit boshaftem Wortspiele: dieser Nichtswürdige
wolle der Napoleon der Julirevolution werden und sie wie ein Tertian-

*) Palmerston, Memorandum über seine Gespräche mit Guizot, 18--20. Juli 1840.
**) Bülow an Maltzan, 9. Juli 1840.
***) Palmerston an Guizot, 15. Juli; Bülow's Bericht 31. Juli 1840.
+) Bülow an Arnim, 21. Juli; Werther an Bülow, 4. Aug. 1840.

V. 2. Die Kriegsgefahr.
Das Protokoll ſagte in ſeiner dehnbaren Faſſung ſehr wenig; denn führte
der Londoner Vertrag zu einem europäiſchen Kriege, ſo konnte Preußen ſich
dem Streite unmöglich entziehen. Unvergeßlich aber blieb die traurige Er-
fahrung, daß der Staat, der die verwegenſten Rathſchläge gab, ſich im
Handeln unter allen am kleinmüthigſten zeigte. —



Durch den Julivertrag wurde der ägyptiſche Streit zu einer euro-
päiſchen Frage, und mit einem male ſah ſich Preußen, dem dieſe orien-
taliſchen Händel ſo fern lagen, in die vorderſte Reihe der Streitenden
geſchoben. Mit der einzigen Ausnahme Rußlands beabſichtigte keine der
vier Mächte den franzöſiſchen Stolz irgend zu kränken. Sie alle meinten,
ihr eigenmächtiges Verfahren ſei durch die beſtändig ausweichende, zuwar-
tende Haltung der franzöſiſchen Diplomatie vollauf gerechtfertigt; hatte
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reich nicht mindeſtens die gänzliche Losreißung Aegyptens verhindern wolle,
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wie Bülow ſagte, Thiers würde gute Miene zum böſen Spiele machen mit An-
ſtand zurückweichen und ſich wohl hüten, im Bunde mit dem ägyptiſchen
Rebellen der offenbaren Uebermacht zu trotzen.**) An dem nämlichen Tage,
da der Vertrag unterzeichnet wurde, ſchrieb Palmerſton mit ungewohnter
Höflichkeit an Guizot: die vier Mächte hätten ſich nur mit tiefem Bedauern,
nur um doch etwas zu Stande zu bringen, von Frankreich getrennt; ſie hoff-
ten, dieſe Trennung würde nur von kurzer Dauer ſein und den Gefühlen
aufrichtiger Freundſchaft keinen Eintrag thun; ſie hofften ſogar, Frank-
reich würde ſeinen großen Einfluß in Alexandria benutzen um ihnen ſeinen
moraliſchen Beiſtand zu leihen und Mehemed Ali zur Nachgiebigkeit zu
bewegen.***) Noch friedfertiger redete Preußen. Bülow ſchrieb nach Paris:
„wir mußten uns der Form nach von Frankreich trennen, hoffen aber
in der Sache ſelbſt auf deſſen hilfreiche Mitwirkung;“ und Miniſter Werther
ſchlug vor, man möge den Tuilerienhof noch vor der Ratification des
Vertrags zum Beitritt einladen, damit jeder Schein eines Zerwürfniſſes
vermieden würde.†) Der öſterreichiſche Staatskanzler hegte allerdings
einen tiefen Haß gegen Thiers, „die wahre Verkörperung der Revolution
von 1830.“ In ſeinen vertrauten Briefen ſchalt er maßlos auf „dieſe
in jeder Hinſicht elende Perſönlichkeit“, die alle ſchlechten Leidenſchaften
der Franzoſen wachrufe und wie ein Trinker ſich nur durch Branntwein
ſtärken könne. Er ſagte mit boshaftem Wortſpiele: dieſer Nichtswürdige
wolle der Napoleon der Julirevolution werden und ſie wie ein Tertian-

*) Palmerſton, Memorandum über ſeine Geſpräche mit Guizot, 18—20. Juli 1840.
**) Bülow an Maltzan, 9. Juli 1840.
***) Palmerſton an Guizot, 15. Juli; Bülow’s Bericht 31. Juli 1840.
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[80/0094] V. 2. Die Kriegsgefahr. Das Protokoll ſagte in ſeiner dehnbaren Faſſung ſehr wenig; denn führte der Londoner Vertrag zu einem europäiſchen Kriege, ſo konnte Preußen ſich dem Streite unmöglich entziehen. Unvergeßlich aber blieb die traurige Er- fahrung, daß der Staat, der die verwegenſten Rathſchläge gab, ſich im Handeln unter allen am kleinmüthigſten zeigte. — Durch den Julivertrag wurde der ägyptiſche Streit zu einer euro- päiſchen Frage, und mit einem male ſah ſich Preußen, dem dieſe orien- taliſchen Händel ſo fern lagen, in die vorderſte Reihe der Streitenden geſchoben. Mit der einzigen Ausnahme Rußlands beabſichtigte keine der vier Mächte den franzöſiſchen Stolz irgend zu kränken. Sie alle meinten, ihr eigenmächtiges Verfahren ſei durch die beſtändig ausweichende, zuwar- tende Haltung der franzöſiſchen Diplomatie vollauf gerechtfertigt; hatte doch Guizot in den letzten Tagen, als Palmerſton ihn fragte, ob Frank- reich nicht mindeſtens die gänzliche Losreißung Aegyptens verhindern wolle, nur achſelzuckend geantwortet: alors comme alors! *) Sie alle glaubten, wie Bülow ſagte, Thiers würde gute Miene zum böſen Spiele machen mit An- ſtand zurückweichen und ſich wohl hüten, im Bunde mit dem ägyptiſchen Rebellen der offenbaren Uebermacht zu trotzen. **) An dem nämlichen Tage, da der Vertrag unterzeichnet wurde, ſchrieb Palmerſton mit ungewohnter Höflichkeit an Guizot: die vier Mächte hätten ſich nur mit tiefem Bedauern, nur um doch etwas zu Stande zu bringen, von Frankreich getrennt; ſie hoff- ten, dieſe Trennung würde nur von kurzer Dauer ſein und den Gefühlen aufrichtiger Freundſchaft keinen Eintrag thun; ſie hofften ſogar, Frank- reich würde ſeinen großen Einfluß in Alexandria benutzen um ihnen ſeinen moraliſchen Beiſtand zu leihen und Mehemed Ali zur Nachgiebigkeit zu bewegen. ***) Noch friedfertiger redete Preußen. Bülow ſchrieb nach Paris: „wir mußten uns der Form nach von Frankreich trennen, hoffen aber in der Sache ſelbſt auf deſſen hilfreiche Mitwirkung;“ und Miniſter Werther ſchlug vor, man möge den Tuilerienhof noch vor der Ratification des Vertrags zum Beitritt einladen, damit jeder Schein eines Zerwürfniſſes vermieden würde. †) Der öſterreichiſche Staatskanzler hegte allerdings einen tiefen Haß gegen Thiers, „die wahre Verkörperung der Revolution von 1830.“ In ſeinen vertrauten Briefen ſchalt er maßlos auf „dieſe in jeder Hinſicht elende Perſönlichkeit“, die alle ſchlechten Leidenſchaften der Franzoſen wachrufe und wie ein Trinker ſich nur durch Branntwein ſtärken könne. Er ſagte mit boshaftem Wortſpiele: dieſer Nichtswürdige wolle der Napoleon der Julirevolution werden und ſie wie ein Tertian- *) Palmerſton, Memorandum über ſeine Geſpräche mit Guizot, 18—20. Juli 1840. **) Bülow an Maltzan, 9. Juli 1840. ***) Palmerſton an Guizot, 15. Juli; Bülow’s Bericht 31. Juli 1840. †) Bülow an Arnim, 21. Juli; Werther an Bülow, 4. Aug. 1840.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/94>, abgerufen am 04.12.2024.