Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

Jede Erfahrung nehmlich, die Andern nützen soll,
muss sich durch Worte, womit jeder einen bestimm-
ten Begriff verbindet, mittheilen lassen, muss ob-
jektiv
seyn. Objektive Begriffe verschffat uns aber
blos der Sinn des Gesichts. Alle übrige Sinne geben
uns mehr oder weniger subjektive Begriffe. Am
meisten objektiv sind noch die des Getastes und
Gehörs, am wenigsten die des Geruchs und Ge-
schmacks. Das Gemeingefühl ist ganz subjektiv,
und kann zu gar keinen objektiven Erfahrungen
führen. Wie wenige medicinische Erfahrungen
giebt es aber, die sich ganz objektiv machen lie-
ssen! Die Kennzeichen, wodurch sich eine be-
obachtete Krankheit von andern unterscheidet, be-
ruhen immer zum Theil auf subjektiven Empfin-
dungen des Kranken und des Arztes, und alle noso-
logische Systeme sind daher mehr oder weniger ei-
nen Natursystem ähnlich, worin die Pflanzen nach
ihrem Geruche, Geschmacke, der Rauhheit oder
Glätte ihrer Blätter, und die Thiere nach den Tö-
nen, die sie hervorbringen, classifizirt wären.
Man nehme die Kennzeichen der ersten Krankheit,
die einem beyfällt, und man wird sich von der
Wahrheit unserer Behauptung bald überzeugen.
Pathognomonische Charaktere des Faulfiebers z. B.
sind: eine brennende Hitze (calor mordax); ein ge-
schwinder, kleiner, weicher und schwacher Puls;
dumpfe und drückende Schmerzen im Hinterhaup-
te; ein eigener widriger Geruch des Athems, der

Aus-

Jede Erfahrung nehmlich, die Andern nützen soll,
muſs sich durch Worte, womit jeder einen bestimm-
ten Begriff verbindet, mittheilen lassen, muſs ob-
jektiv
seyn. Objektive Begriffe verschffat uns aber
blos der Sinn des Gesichts. Alle übrige Sinne geben
uns mehr oder weniger subjektive Begriffe. Am
meisten objektiv sind noch die des Getastes und
Gehörs, am wenigsten die des Geruchs und Ge-
schmacks. Das Gemeingefühl ist ganz subjektiv,
und kann zu gar keinen objektiven Erfahrungen
führen. Wie wenige medicinische Erfahrungen
giebt es aber, die sich ganz objektiv machen lie-
ſsen! Die Kennzeichen, wodurch sich eine be-
obachtete Krankheit von andern unterscheidet, be-
ruhen immer zum Theil auf subjektiven Empfin-
dungen des Kranken und des Arztes, und alle noso-
logische Systeme sind daher mehr oder weniger ei-
nen Natursystem ähnlich, worin die Pflanzen nach
ihrem Geruche, Geschmacke, der Rauhheit oder
Glätte ihrer Blätter, und die Thiere nach den Tö-
nen, die sie hervorbringen, classifizirt wären.
Man nehme die Kennzeichen der ersten Krankheit,
die einem beyfällt, und man wird sich von der
Wahrheit unserer Behauptung bald überzeugen.
Pathognomonische Charaktere des Faulfiebers z. B.
sind: eine brennende Hitze (calor mordax); ein ge-
schwinder, kleiner, weicher und schwacher Puls;
dumpfe und drückende Schmerzen im Hinterhaup-
te; ein eigener widriger Geruch des Athems, der

Aus-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0148" n="128"/>
Jede Erfahrung nehmlich, die Andern nützen soll,<lb/>
mu&#x017F;s sich durch Worte, womit jeder einen bestimm-<lb/>
ten Begriff verbindet, mittheilen lassen, mu&#x017F;s <hi rendition="#g">ob-<lb/>
jektiv</hi> seyn. Objektive Begriffe verschffat uns aber<lb/>
blos der Sinn des Gesichts. Alle übrige Sinne geben<lb/>
uns mehr oder weniger subjektive Begriffe. Am<lb/>
meisten objektiv sind noch die des Getastes und<lb/>
Gehörs, am wenigsten die des Geruchs und Ge-<lb/>
schmacks. Das Gemeingefühl ist ganz subjektiv,<lb/>
und kann zu gar keinen objektiven Erfahrungen<lb/>
führen. Wie wenige medicinische Erfahrungen<lb/>
giebt es aber, die sich ganz objektiv machen lie-<lb/>
&#x017F;sen! Die Kennzeichen, wodurch sich eine be-<lb/>
obachtete Krankheit von andern unterscheidet, be-<lb/>
ruhen immer zum Theil auf subjektiven Empfin-<lb/>
dungen des Kranken und des Arztes, und alle noso-<lb/>
logische Systeme sind daher mehr oder weniger ei-<lb/>
nen Natursystem ähnlich, worin die Pflanzen nach<lb/>
ihrem Geruche, Geschmacke, der Rauhheit oder<lb/>
Glätte ihrer Blätter, und die Thiere nach den Tö-<lb/>
nen, die sie hervorbringen, classifizirt wären.<lb/>
Man nehme die Kennzeichen der ersten Krankheit,<lb/>
die einem beyfällt, und man wird sich von der<lb/>
Wahrheit unserer Behauptung bald überzeugen.<lb/>
Pathognomonische Charaktere des Faulfiebers z. B.<lb/>
sind: eine brennende Hitze (calor mordax); ein ge-<lb/>
schwinder, kleiner, weicher und schwacher Puls;<lb/>
dumpfe und drückende Schmerzen im Hinterhaup-<lb/>
te; ein eigener widriger Geruch des Athems, der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Aus-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0148] Jede Erfahrung nehmlich, die Andern nützen soll, muſs sich durch Worte, womit jeder einen bestimm- ten Begriff verbindet, mittheilen lassen, muſs ob- jektiv seyn. Objektive Begriffe verschffat uns aber blos der Sinn des Gesichts. Alle übrige Sinne geben uns mehr oder weniger subjektive Begriffe. Am meisten objektiv sind noch die des Getastes und Gehörs, am wenigsten die des Geruchs und Ge- schmacks. Das Gemeingefühl ist ganz subjektiv, und kann zu gar keinen objektiven Erfahrungen führen. Wie wenige medicinische Erfahrungen giebt es aber, die sich ganz objektiv machen lie- ſsen! Die Kennzeichen, wodurch sich eine be- obachtete Krankheit von andern unterscheidet, be- ruhen immer zum Theil auf subjektiven Empfin- dungen des Kranken und des Arztes, und alle noso- logische Systeme sind daher mehr oder weniger ei- nen Natursystem ähnlich, worin die Pflanzen nach ihrem Geruche, Geschmacke, der Rauhheit oder Glätte ihrer Blätter, und die Thiere nach den Tö- nen, die sie hervorbringen, classifizirt wären. Man nehme die Kennzeichen der ersten Krankheit, die einem beyfällt, und man wird sich von der Wahrheit unserer Behauptung bald überzeugen. Pathognomonische Charaktere des Faulfiebers z. B. sind: eine brennende Hitze (calor mordax); ein ge- schwinder, kleiner, weicher und schwacher Puls; dumpfe und drückende Schmerzen im Hinterhaup- te; ein eigener widriger Geruch des Athems, der Aus-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/148
Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/148>, abgerufen am 10.05.2024.