Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

sie zuerst machte, und dem, der sie wiederhohlet,
also etwas voraus, das sich weder durch geistige
Cultur, noch durch Uebung erwerben lässt. -- Eben
dieses Erforderniss aber macht es unmöglich, über
die Tauglichkeit eines Menschen zur Ausübung der
Heilkunde, und über die Grösse eines Arztes zu
urtheilen. Aus der Menge der Kranken, die unter
der Behandlung des letztern genesen, lässt sich die
Grösse desselben nicht schätzen: denn jene ist ab-
hängig vom Zufalle. Aus dem Grade seiner geisti-
gen Cultur gilt eben so wenig ein Schluss auf seine
Talente als Heilkünstler, da diese Folgen der Orga-
nisation sind, und mit jener nichts gemein haben.
Blos er selbst könnte über seine Talente ein Ur-
theil fällen; aber wer schmeichelt sich nicht, der
begünstigte Liebling der Natur zu seyn!

Aus dem Subjektiven der medicinischen Erfah-
rungen lässt sich ferner der grosse Werth erklären,
den die empirischen Aerzte auf ihr sogenanntes
praktisches Gefühl setzen. Dogmatiker ha-
ben diesen Ausdruck als nichtssagend darzustellen
gesucht. Aber versteht man darunter eine ange-
bohrne, durch Uebung vermehrte Fertigkeit in der
Auffindung und Anwendung subjektiver Erfahrun-
gen, so erhält er eine sehr reelle Bedeutung, und
so erscheint er allerdings als ein nothwendiges Er-
forderniss zu einem geschickten empirischen Arzte.

Aus den obigen Sätzen erhellet endlich, in wel-
chen Theilen der Heilkunde objektive Erfahrung

mög-

sie zuerst machte, und dem, der sie wiederhohlet,
also etwas voraus, das sich weder durch geistige
Cultur, noch durch Uebung erwerben läſst. — Eben
dieses Erforderniſs aber macht es unmöglich, über
die Tauglichkeit eines Menschen zur Ausübung der
Heilkunde, und über die Gröſse eines Arztes zu
urtheilen. Aus der Menge der Kranken, die unter
der Behandlung des letztern genesen, läſst sich die
Gröſse desselben nicht schätzen: denn jene ist ab-
hängig vom Zufalle. Aus dem Grade seiner geisti-
gen Cultur gilt eben so wenig ein Schluſs auf seine
Talente als Heilkünstler, da diese Folgen der Orga-
nisation sind, und mit jener nichts gemein haben.
Blos er selbst könnte über seine Talente ein Ur-
theil fällen; aber wer schmeichelt sich nicht, der
begünstigte Liebling der Natur zu seyn!

Aus dem Subjektiven der medicinischen Erfah-
rungen läſst sich ferner der groſse Werth erklären,
den die empirischen Aerzte auf ihr sogenanntes
praktisches Gefühl setzen. Dogmatiker ha-
ben diesen Ausdruck als nichtssagend darzustellen
gesucht. Aber versteht man darunter eine ange-
bohrne, durch Uebung vermehrte Fertigkeit in der
Auffindung und Anwendung subjektiver Erfahrun-
gen, so erhält er eine sehr reelle Bedeutung, und
so erscheint er allerdings als ein nothwendiges Er-
forderniſs zu einem geschickten empirischen Arzte.

Aus den obigen Sätzen erhellet endlich, in wel-
chen Theilen der Heilkunde objektive Erfahrung

mög-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0150" n="130"/>
sie zuerst machte, und dem, der sie wiederhohlet,<lb/>
also etwas voraus, das sich weder durch geistige<lb/>
Cultur, noch durch Uebung erwerben lä&#x017F;st. &#x2014; Eben<lb/>
dieses Erforderni&#x017F;s aber macht es unmöglich, über<lb/>
die Tauglichkeit eines Menschen zur Ausübung der<lb/>
Heilkunde, und über die Grö&#x017F;se eines Arztes zu<lb/>
urtheilen. Aus der Menge der Kranken, die unter<lb/>
der Behandlung des letztern genesen, lä&#x017F;st sich die<lb/>
Grö&#x017F;se desselben nicht schätzen: denn jene ist ab-<lb/>
hängig vom Zufalle. Aus dem Grade seiner geisti-<lb/>
gen Cultur gilt eben so wenig ein Schlu&#x017F;s auf seine<lb/>
Talente als Heilkünstler, da diese Folgen der Orga-<lb/>
nisation sind, und mit jener nichts gemein haben.<lb/>
Blos er selbst könnte über seine Talente ein Ur-<lb/>
theil fällen; aber wer schmeichelt sich nicht, der<lb/>
begünstigte Liebling der Natur zu seyn!</p><lb/>
          <p>Aus dem Subjektiven der medicinischen Erfah-<lb/>
rungen lä&#x017F;st sich ferner der gro&#x017F;se Werth erklären,<lb/>
den die empirischen Aerzte auf ihr sogenanntes<lb/><hi rendition="#g">praktisches Gefühl</hi> setzen. Dogmatiker ha-<lb/>
ben diesen Ausdruck als nichtssagend darzustellen<lb/>
gesucht. Aber versteht man darunter eine ange-<lb/>
bohrne, durch Uebung vermehrte Fertigkeit in der<lb/>
Auffindung und Anwendung subjektiver Erfahrun-<lb/>
gen, so erhält er eine sehr reelle Bedeutung, und<lb/>
so erscheint er allerdings als ein nothwendiges Er-<lb/>
forderni&#x017F;s zu einem geschickten empirischen Arzte.</p><lb/>
          <p>Aus den obigen Sätzen erhellet endlich, in wel-<lb/>
chen Theilen der Heilkunde objektive Erfahrung<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mög-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0150] sie zuerst machte, und dem, der sie wiederhohlet, also etwas voraus, das sich weder durch geistige Cultur, noch durch Uebung erwerben läſst. — Eben dieses Erforderniſs aber macht es unmöglich, über die Tauglichkeit eines Menschen zur Ausübung der Heilkunde, und über die Gröſse eines Arztes zu urtheilen. Aus der Menge der Kranken, die unter der Behandlung des letztern genesen, läſst sich die Gröſse desselben nicht schätzen: denn jene ist ab- hängig vom Zufalle. Aus dem Grade seiner geisti- gen Cultur gilt eben so wenig ein Schluſs auf seine Talente als Heilkünstler, da diese Folgen der Orga- nisation sind, und mit jener nichts gemein haben. Blos er selbst könnte über seine Talente ein Ur- theil fällen; aber wer schmeichelt sich nicht, der begünstigte Liebling der Natur zu seyn! Aus dem Subjektiven der medicinischen Erfah- rungen läſst sich ferner der groſse Werth erklären, den die empirischen Aerzte auf ihr sogenanntes praktisches Gefühl setzen. Dogmatiker ha- ben diesen Ausdruck als nichtssagend darzustellen gesucht. Aber versteht man darunter eine ange- bohrne, durch Uebung vermehrte Fertigkeit in der Auffindung und Anwendung subjektiver Erfahrun- gen, so erhält er eine sehr reelle Bedeutung, und so erscheint er allerdings als ein nothwendiges Er- forderniſs zu einem geschickten empirischen Arzte. Aus den obigen Sätzen erhellet endlich, in wel- chen Theilen der Heilkunde objektive Erfahrung mög-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/150
Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/150>, abgerufen am 10.05.2024.