wir aufstellen werden, auf die praktische Medicin haben könnten, werden wir nur danach fragen, ob sie mit den Regeln der Interpretation der Natur übereinstimmen. Diese Vorschriften hinterliess uns Baco, und nur diese lasst uns stets vor Augen ha- ben. Vor allen andern aber lasst uns folgende zwey beherzigen, denn in ihrer Vernachlässigung liegt vorzüglich der Keim zu den vielen Irrthümern, welche die Geschichte der Biologie aufzuweisen hat.
Fast jeder Mensch hat gewisse Ideen, oder ir- gend eine Wissenschaft, die er vorzüglich liebt, entweder weil er sich für den Erfinder derselben hält, oder weil er durch ein langes Studium sehr vertraut mit ihnen geworden ist. Aber so wie der Liebende allenthalben seine Geliebte sieht, so ge- wöhnt sich der, in dessen Seele irgend eine Lieb- lingsidee oder Lieblingswissenschaft einmal herr- schend geworden ist, alles nur in Beziehung auf diese zu betrachten. Sie wird ihm endlich ein ge- färbtes Glas, wodurch ihm alles in einem ganz an- dern Lichte erscheint, wie jedem andern Menschen, wodurch er Analogien entdeckt, die ausser ihm kein Vernünftiger sieht. So bezieht der Philosoph alles auf sein philosophisches System, der Mathe- matiker auf seine Grössenlehre, und der Scheide- künstler auf seine Chemie. So erklärte Xenopha- nes, verblendet durch die mystischen Lehren des Pythagoras und Plato von der Kraft der Zahlen in
der
wir aufstellen werden, auf die praktische Medicin haben könnten, werden wir nur danach fragen, ob sie mit den Regeln der Interpretation der Natur übereinstimmen. Diese Vorschriften hinterlieſs uns Baco, und nur diese laſst uns stets vor Augen ha- ben. Vor allen andern aber laſst uns folgende zwey beherzigen, denn in ihrer Vernachlässigung liegt vorzüglich der Keim zu den vielen Irrthümern, welche die Geschichte der Biologie aufzuweisen hat.
Fast jeder Mensch hat gewisse Ideen, oder ir- gend eine Wissenschaft, die er vorzüglich liebt, entweder weil er sich für den Erfinder derselben hält, oder weil er durch ein langes Studium sehr vertraut mit ihnen geworden ist. Aber so wie der Liebende allenthalben seine Geliebte sieht, so ge- wöhnt sich der, in dessen Seele irgend eine Lieb- lingsidee oder Lieblingswissenschaft einmal herr- schend geworden ist, alles nur in Beziehung auf diese zu betrachten. Sie wird ihm endlich ein ge- färbtes Glas, wodurch ihm alles in einem ganz an- dern Lichte erscheint, wie jedem andern Menschen, wodurch er Analogien entdeckt, die ausser ihm kein Vernünftiger sieht. So bezieht der Philosoph alles auf sein philosophisches System, der Mathe- matiker auf seine Gröſsenlehre, und der Scheide- künstler auf seine Chemie. So erklärte Xenopha- nes, verblendet durch die mystischen Lehren des Pythagoras und Plato von der Kraft der Zahlen in
der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0166"n="146"/>
wir aufstellen werden, auf die praktische Medicin<lb/>
haben könnten, werden wir nur danach fragen, ob<lb/>
sie mit den Regeln der Interpretation der Natur<lb/>
übereinstimmen. Diese Vorschriften hinterlieſs uns<lb/><hirendition="#k">Baco</hi>, und nur diese laſst uns stets vor Augen ha-<lb/>
ben. Vor allen andern aber laſst uns folgende zwey<lb/>
beherzigen, denn in ihrer Vernachlässigung liegt<lb/>
vorzüglich der Keim zu den vielen Irrthümern,<lb/>
welche die Geschichte der Biologie aufzuweisen hat.</p><lb/><p>Fast jeder Mensch hat gewisse Ideen, oder ir-<lb/>
gend eine Wissenschaft, die er vorzüglich liebt,<lb/>
entweder weil er sich für den Erfinder derselben<lb/>
hält, oder weil er durch ein langes Studium sehr<lb/>
vertraut mit ihnen geworden ist. Aber so wie der<lb/>
Liebende allenthalben seine Geliebte sieht, so ge-<lb/>
wöhnt sich der, in dessen Seele irgend eine Lieb-<lb/>
lingsidee oder Lieblingswissenschaft einmal herr-<lb/>
schend geworden ist, alles nur in Beziehung auf<lb/>
diese zu betrachten. Sie wird ihm endlich ein ge-<lb/>
färbtes Glas, wodurch ihm alles in einem ganz an-<lb/>
dern Lichte erscheint, wie jedem andern Menschen,<lb/>
wodurch er Analogien entdeckt, die ausser ihm<lb/>
kein Vernünftiger sieht. So bezieht der Philosoph<lb/>
alles auf sein philosophisches System, der Mathe-<lb/>
matiker auf seine Gröſsenlehre, und der Scheide-<lb/>
künstler auf seine Chemie. So erklärte Xenopha-<lb/>
nes, verblendet durch die mystischen Lehren des<lb/>
Pythagoras und Plato von der Kraft der Zahlen in<lb/><fwplace="bottom"type="catch">der</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[146/0166]
wir aufstellen werden, auf die praktische Medicin
haben könnten, werden wir nur danach fragen, ob
sie mit den Regeln der Interpretation der Natur
übereinstimmen. Diese Vorschriften hinterlieſs uns
Baco, und nur diese laſst uns stets vor Augen ha-
ben. Vor allen andern aber laſst uns folgende zwey
beherzigen, denn in ihrer Vernachlässigung liegt
vorzüglich der Keim zu den vielen Irrthümern,
welche die Geschichte der Biologie aufzuweisen hat.
Fast jeder Mensch hat gewisse Ideen, oder ir-
gend eine Wissenschaft, die er vorzüglich liebt,
entweder weil er sich für den Erfinder derselben
hält, oder weil er durch ein langes Studium sehr
vertraut mit ihnen geworden ist. Aber so wie der
Liebende allenthalben seine Geliebte sieht, so ge-
wöhnt sich der, in dessen Seele irgend eine Lieb-
lingsidee oder Lieblingswissenschaft einmal herr-
schend geworden ist, alles nur in Beziehung auf
diese zu betrachten. Sie wird ihm endlich ein ge-
färbtes Glas, wodurch ihm alles in einem ganz an-
dern Lichte erscheint, wie jedem andern Menschen,
wodurch er Analogien entdeckt, die ausser ihm
kein Vernünftiger sieht. So bezieht der Philosoph
alles auf sein philosophisches System, der Mathe-
matiker auf seine Gröſsenlehre, und der Scheide-
künstler auf seine Chemie. So erklärte Xenopha-
nes, verblendet durch die mystischen Lehren des
Pythagoras und Plato von der Kraft der Zahlen in
der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/166>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.