Das Gebiet des Instinkts ist so ausgebreitet, dass ohne denselben die thierische Natur nicht würde vorhanden seyn können. Selbst der ein- fache, mit den Pflanzen so nahe verwandte Polyp muss Instinkt besitzen, um seine Beute zu ken- nen und die zweckmässigsten Bewegungen zum Haschen derselben zu machen. Indess sehen wir selten die instinktartigen Handlungen in ihrer ur- sprünglichen Reinheit. Fast immer sind sie mit Wirkungen der Seele und des Associationsvermö- gens so eng verbunden, dass es leicht ist, die letztern für ihre einzige Ursache anzunehmen. In diesen Irrthum gerieht Condillaca), indem er alle jene Handlungen für erworbene Fertigkeiten hielt. Er würde auf seine, schon von Reima- rusb) gründlich widerlegte Meinung nicht ver- fallen seyn, wenn er den Instinkt mehr in sei- nen einfachsten Aeusserungen betrachtet hätte. Er- worbene Fertigkeiten haben ursprünglich in See- lenwirkungen ihren Grund, werden aber in der Folge durch öftere Wiederholung unter sich und mit andern Nervenwirkungen so verkettet, dass sie endlich ohne Zuthun der Seele vor sich gehen. Diese Bedingungen finden nicht bey jenen Hand- lungen des neugebornen Thiers statt. Durch Uebung erlangt dasselbe zwar grössere Leichtig- keit im Gebrauch seiner Glieder; aber es gebraucht
sie
a) Traite des animaux. Amsterd. 1755. P. 2. ch. 1-5.
b) A. a. O. S. 243 fg.
Das Gebiet des Instinkts ist so ausgebreitet, daſs ohne denselben die thierische Natur nicht würde vorhanden seyn können. Selbst der ein- fache, mit den Pflanzen so nahe verwandte Polyp muſs Instinkt besitzen, um seine Beute zu ken- nen und die zweckmäſsigsten Bewegungen zum Haschen derselben zu machen. Indeſs sehen wir selten die instinktartigen Handlungen in ihrer ur- sprünglichen Reinheit. Fast immer sind sie mit Wirkungen der Seele und des Associationsvermö- gens so eng verbunden, daſs es leicht ist, die letztern für ihre einzige Ursache anzunehmen. In diesen Irrthum gerieht Condillaca), indem er alle jene Handlungen für erworbene Fertigkeiten hielt. Er würde auf seine, schon von Reima- rusb) gründlich widerlegte Meinung nicht ver- fallen seyn, wenn er den Instinkt mehr in sei- nen einfachsten Aeuſserungen betrachtet hätte. Er- worbene Fertigkeiten haben ursprünglich in See- lenwirkungen ihren Grund, werden aber in der Folge durch öftere Wiederholung unter sich und mit andern Nervenwirkungen so verkettet, daſs sie endlich ohne Zuthun der Seele vor sich gehen. Diese Bedingungen finden nicht bey jenen Hand- lungen des neugebornen Thiers statt. Durch Uebung erlangt dasselbe zwar gröſsere Leichtig- keit im Gebrauch seiner Glieder; aber es gebraucht
sie
a) Traité des animaux. Amsterd. 1755. P. 2. ch. 1-5.
b) A. a. O. S. 243 fg.
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Das Gebiet des Instinkts ist so ausgebreitet,
daſs ohne denselben die thierische Natur nicht
würde vorhanden seyn können. Selbst der ein-
fache, mit den Pflanzen so nahe verwandte Polyp
muſs Instinkt besitzen, um seine Beute zu ken-
nen und die zweckmäſsigsten Bewegungen zum
Haschen derselben zu machen. Indeſs sehen wir
selten die instinktartigen Handlungen in ihrer ur-
sprünglichen Reinheit. Fast immer sind sie mit
Wirkungen der Seele und des Associationsvermö-
gens so eng verbunden, daſs es leicht ist, die
letztern für ihre einzige Ursache anzunehmen. In
diesen Irrthum gerieht Condillac a), indem er
alle jene Handlungen für erworbene Fertigkeiten
hielt. Er würde auf seine, schon von Reima-
rus b) gründlich widerlegte Meinung nicht ver-
fallen seyn, wenn er den Instinkt mehr in sei-
nen einfachsten Aeuſserungen betrachtet hätte. Er-
worbene Fertigkeiten haben ursprünglich in See-
lenwirkungen ihren Grund, werden aber in der
Folge durch öftere Wiederholung unter sich und
mit andern Nervenwirkungen so verkettet, daſs
sie endlich ohne Zuthun der Seele vor sich gehen.
Diese Bedingungen finden nicht bey jenen Hand-
lungen des neugebornen Thiers statt. Durch
Uebung erlangt dasselbe zwar gröſsere Leichtig-
keit im Gebrauch seiner Glieder; aber es gebraucht
sie
a) Traité des animaux. Amsterd. 1755. P. 2. ch. 1-5.
b) A. a. O. S. 243 fg.
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 5. Göttingen, 1818, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie05_1818/444>, abgerufen am 27.11.2024.
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