Frägt man weiter, warum die bildende Kraft nur bey den Thieren im gesunden Zustande ohne Zuthun der höhern Seelenkräfte Vorstellun- gen erzeugt, die sich auf ein zweckmässiges Wirken derselben im Materiellen beziehen, bey dem Menschen aber solche Vorstellungen selten anders als in Krankheiten entstehen, so ist die Antwort, weil das Sensorium des Thiers in ei- nem andern Verhältniss zur äussern Welt als das des Menschen steht. Der innere Sinn des letztern ist im gewöhnlichen Zustande blos durch die äussern Sinne zugänglich für Eindrücke der Aussenwelt. Bey dem Thier giebt es in diesem Zustande einen unmittelbaren, dynamischen Ein- fluss der äussern Welt auf den innern Sinn; es wirken Eindrücke auf diesen, wodurch die pro- duktive Einbildungskraft zur Erzeugung von Bildern veranlasst wird, die ihrer äussern Ur- sache entsprechen, denen aber die Objektivität der Sinnesvorstellungen mangelt. Dem Schla- fenden entfällt die Decke, und er träumt von kal- ten Winden, die ihn anwehen, oder von Ver- sinken in beeistem Wasser. Wie hier zu einem sinnlichen Eindruck, dessen sich die Seele nicht
bewusst
den Schein von Werken der Vernunft haben, in- dem sie nur das Zweckmässige hervorzubringen ihrer Natur oder ihren äussern Verhältnissen nach gezwungen ist.
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Frägt man weiter, warum die bildende Kraft nur bey den Thieren im gesunden Zustande ohne Zuthun der höhern Seelenkräfte Vorstellun- gen erzeugt, die sich auf ein zweckmäſsiges Wirken derselben im Materiellen beziehen, bey dem Menschen aber solche Vorstellungen selten anders als in Krankheiten entstehen, so ist die Antwort, weil das Sensorium des Thiers in ei- nem andern Verhältniſs zur äuſsern Welt als das des Menschen steht. Der innere Sinn des letztern ist im gewöhnlichen Zustande blos durch die äuſsern Sinne zugänglich für Eindrücke der Auſsenwelt. Bey dem Thier giebt es in diesem Zustande einen unmittelbaren, dynamischen Ein- fluſs der äuſsern Welt auf den innern Sinn; es wirken Eindrücke auf diesen, wodurch die pro- duktive Einbildungskraft zur Erzeugung von Bildern veranlaſst wird, die ihrer äuſsern Ur- sache entsprechen, denen aber die Objektivität der Sinnesvorstellungen mangelt. Dem Schla- fenden entfällt die Decke, und er träumt von kal- ten Winden, die ihn anwehen, oder von Ver- sinken in beeistem Wasser. Wie hier zu einem sinnlichen Eindruck, dessen sich die Seele nicht
bewuſst
den Schein von Werken der Vernunft haben, in- dem sie nur das Zweckmäſsige hervorzubringen ihrer Natur oder ihren äuſsern Verhältnissen nach gezwungen ist.
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Frägt man weiter, warum die bildende Kraft
nur bey den Thieren im gesunden Zustande
ohne Zuthun der höhern Seelenkräfte Vorstellun-
gen erzeugt, die sich auf ein zweckmäſsiges
Wirken derselben im Materiellen beziehen, bey
dem Menschen aber solche Vorstellungen selten
anders als in Krankheiten entstehen, so ist die
Antwort, weil das Sensorium des Thiers in ei-
nem andern Verhältniſs zur äuſsern Welt als
das des Menschen steht. Der innere Sinn des
letztern ist im gewöhnlichen Zustande blos durch
die äuſsern Sinne zugänglich für Eindrücke der
Auſsenwelt. Bey dem Thier giebt es in diesem
Zustande einen unmittelbaren, dynamischen Ein-
fluſs der äuſsern Welt auf den innern Sinn; es
wirken Eindrücke auf diesen, wodurch die pro-
duktive Einbildungskraft zur Erzeugung von
Bildern veranlaſst wird, die ihrer äuſsern Ur-
sache entsprechen, denen aber die Objektivität
der Sinnesvorstellungen mangelt. Dem Schla-
fenden entfällt die Decke, und er träumt von kal-
ten Winden, die ihn anwehen, oder von Ver-
sinken in beeistem Wasser. Wie hier zu einem
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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