Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.Da ward in's Reich erlassen Ein feierlich Gebot, Verkündet in allen Straßen, Der Tod darauf gedroht: Wo Jemand Spindeln hätte, Die sollte man liefern ein, Und sie an offner Stätte Verbrennen insgemein. Nicht nach gewohnter Sitte Erzog man dieses Kind In dumpfer Kammern Mitte, Noch sonst wo Spindeln sind; Nein, in den Rosengärten, In Wäldern, frisch und kühl, Mit lustigen Gefährten, Bei freiem, kühnem Spiel. Und als es kam zu Jahren, Ward es die schönste Frau, Mit langen, goldnen Haaren, Mit Augen dunkelblau; In Gang, Gebärde züchtig, In Reden treu und schlicht, In aller Arbeit tüchtig, Nur mit der Spindel nicht. Da ward in’s Reich erlaſſen Ein feierlich Gebot, Verkündet in allen Straßen, Der Tod darauf gedroht: Wo Jemand Spindeln hätte, Die ſollte man liefern ein, Und ſie an offner Stätte Verbrennen insgemein. Nicht nach gewohnter Sitte Erzog man dieſes Kind In dumpfer Kammern Mitte, Noch ſonſt wo Spindeln ſind; Nein, in den Roſengärten, In Wäldern, friſch und kühl, Mit luſtigen Gefährten, Bei freiem, kühnem Spiel. Und als es kam zu Jahren, Ward es die ſchönſte Frau, Mit langen, goldnen Haaren, Mit Augen dunkelblau; In Gang, Gebärde züchtig, In Reden treu und ſchlicht, In aller Arbeit tüchtig, Nur mit der Spindel nicht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0348" n="342"/> <lg n="4"> <l>Da ward in’s Reich erlaſſen</l><lb/> <l>Ein feierlich Gebot,</l><lb/> <l>Verkündet in allen Straßen,</l><lb/> <l>Der Tod darauf gedroht:</l><lb/> <l>Wo Jemand Spindeln hätte,</l><lb/> <l>Die ſollte man liefern ein,</l><lb/> <l>Und ſie an offner Stätte</l><lb/> <l>Verbrennen insgemein.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Nicht nach gewohnter Sitte</l><lb/> <l>Erzog man dieſes Kind</l><lb/> <l>In dumpfer Kammern Mitte,</l><lb/> <l>Noch ſonſt wo Spindeln ſind;</l><lb/> <l>Nein, in den Roſengärten,</l><lb/> <l>In Wäldern, friſch und kühl,</l><lb/> <l>Mit luſtigen Gefährten,</l><lb/> <l>Bei freiem, kühnem Spiel.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Und als es kam zu Jahren,</l><lb/> <l>Ward es die ſchönſte Frau,</l><lb/> <l>Mit langen, goldnen Haaren,</l><lb/> <l>Mit Augen dunkelblau;</l><lb/> <l>In Gang, Gebärde züchtig,</l><lb/> <l>In Reden treu und ſchlicht,</l><lb/> <l>In aller Arbeit tüchtig,</l><lb/> <l>Nur mit der Spindel nicht.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [342/0348]
Da ward in’s Reich erlaſſen
Ein feierlich Gebot,
Verkündet in allen Straßen,
Der Tod darauf gedroht:
Wo Jemand Spindeln hätte,
Die ſollte man liefern ein,
Und ſie an offner Stätte
Verbrennen insgemein.
Nicht nach gewohnter Sitte
Erzog man dieſes Kind
In dumpfer Kammern Mitte,
Noch ſonſt wo Spindeln ſind;
Nein, in den Roſengärten,
In Wäldern, friſch und kühl,
Mit luſtigen Gefährten,
Bei freiem, kühnem Spiel.
Und als es kam zu Jahren,
Ward es die ſchönſte Frau,
Mit langen, goldnen Haaren,
Mit Augen dunkelblau;
In Gang, Gebärde züchtig,
In Reden treu und ſchlicht,
In aller Arbeit tüchtig,
Nur mit der Spindel nicht.
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