Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

zerrte Lebenskraft recht eigentlich die Puppe, mit der die Welt spielt. Sie hielt inne und setzte nach einer Pause hinzu, indem sie mit verschränkten Armen, den Blick sinnend auf den Boden gerichtet, stehen blieb: Die Welt -- wie ich sie mir denke; denn geschaut hab' ich sie nicht.

Mehre Tage waren vergangen, und des Vorfalls in der Kirche war in Gegenwart Scholastika's von ihren jungen Genossinnen nicht mehr erwähnt worden. Eines Morgens befand sich die Nonne einsam in der Kirche. Die Stunde des Gebets hatte für die übrige Klostereinwohnerschaft noch nicht geschlagen. Der so lang von ihr nicht betretene Tempel übte eine gewaltsame Erschütterung auf ihr Herz. Sie warf sich auf den Stufen vor den noch geschlossenen Altarthüren nieder, und indem ihre heiße Stirn den Steinboden berührte, machte ihre zitternde Rechte das Zeichen des Kreuzes auf Brust und Schultern. Ein Geräusch in ihrer Nähe schreckte sie auf, sie erblickte dicht neben sich einen Mann stehen, in einen Mantel gehüllt und den Hut tief im Gesichte. Die Dämmerung der frühen Stunde erfüllte die Halle und bewirkte, daß die düstere Gestalt in kolossalen Umrissen erschien: sie war einem Geist ähnlich, der, aus der Nacht der Grüfte emporgestiegen, die Frist, die ihm noch vor vollem Anbruch des Tages geblieben war, dazu anwandte, die Brust der Lebendigen mit den schauervollen Ahnungen und Gebilden des Jenseits zu füllen. Scholastika, noch immer auf den Knieen liegend, bedeckte ihr Antlitz und stieß einen Laut des Schreckens aus. Un-

zerrte Lebenskraft recht eigentlich die Puppe, mit der die Welt spielt. Sie hielt inne und setzte nach einer Pause hinzu, indem sie mit verschränkten Armen, den Blick sinnend auf den Boden gerichtet, stehen blieb: Die Welt — wie ich sie mir denke; denn geschaut hab' ich sie nicht.

Mehre Tage waren vergangen, und des Vorfalls in der Kirche war in Gegenwart Scholastika's von ihren jungen Genossinnen nicht mehr erwähnt worden. Eines Morgens befand sich die Nonne einsam in der Kirche. Die Stunde des Gebets hatte für die übrige Klostereinwohnerschaft noch nicht geschlagen. Der so lang von ihr nicht betretene Tempel übte eine gewaltsame Erschütterung auf ihr Herz. Sie warf sich auf den Stufen vor den noch geschlossenen Altarthüren nieder, und indem ihre heiße Stirn den Steinboden berührte, machte ihre zitternde Rechte das Zeichen des Kreuzes auf Brust und Schultern. Ein Geräusch in ihrer Nähe schreckte sie auf, sie erblickte dicht neben sich einen Mann stehen, in einen Mantel gehüllt und den Hut tief im Gesichte. Die Dämmerung der frühen Stunde erfüllte die Halle und bewirkte, daß die düstere Gestalt in kolossalen Umrissen erschien: sie war einem Geist ähnlich, der, aus der Nacht der Grüfte emporgestiegen, die Frist, die ihm noch vor vollem Anbruch des Tages geblieben war, dazu anwandte, die Brust der Lebendigen mit den schauervollen Ahnungen und Gebilden des Jenseits zu füllen. Scholastika, noch immer auf den Knieen liegend, bedeckte ihr Antlitz und stieß einen Laut des Schreckens aus. Un-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0044"/>
zerrte Lebenskraft recht                eigentlich die Puppe, mit der die Welt spielt. Sie hielt inne und setzte nach einer                Pause hinzu, indem sie mit verschränkten Armen, den Blick sinnend auf den Boden                gerichtet, stehen blieb: Die Welt &#x2014; wie ich sie mir denke; denn geschaut hab' ich sie                nicht.</p><lb/>
        <p>Mehre Tage waren vergangen, und des Vorfalls in der Kirche war in Gegenwart                Scholastika's von ihren jungen Genossinnen nicht mehr erwähnt worden. Eines Morgens                befand sich die Nonne einsam in der Kirche. Die Stunde des Gebets hatte für die                übrige Klostereinwohnerschaft noch nicht geschlagen. Der so lang von ihr nicht                betretene Tempel übte eine gewaltsame Erschütterung auf ihr Herz. Sie warf sich auf                den Stufen vor den noch geschlossenen Altarthüren nieder, und indem ihre heiße Stirn                den Steinboden berührte, machte ihre zitternde Rechte das Zeichen des Kreuzes auf                Brust und Schultern. Ein Geräusch in ihrer Nähe schreckte sie auf, sie erblickte                dicht neben sich einen Mann stehen, in einen Mantel gehüllt und den Hut tief im                Gesichte. Die Dämmerung der frühen Stunde erfüllte die Halle und bewirkte, daß die                düstere Gestalt in kolossalen Umrissen erschien: sie war einem Geist ähnlich, der,                aus der Nacht der Grüfte emporgestiegen, die Frist, die ihm noch vor vollem Anbruch                des Tages geblieben war, dazu anwandte, die Brust der Lebendigen mit den                schauervollen Ahnungen und Gebilden des Jenseits zu füllen. Scholastika, noch immer                auf den Knieen liegend, bedeckte ihr Antlitz und stieß einen Laut des Schreckens aus.                Un-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0044] zerrte Lebenskraft recht eigentlich die Puppe, mit der die Welt spielt. Sie hielt inne und setzte nach einer Pause hinzu, indem sie mit verschränkten Armen, den Blick sinnend auf den Boden gerichtet, stehen blieb: Die Welt — wie ich sie mir denke; denn geschaut hab' ich sie nicht. Mehre Tage waren vergangen, und des Vorfalls in der Kirche war in Gegenwart Scholastika's von ihren jungen Genossinnen nicht mehr erwähnt worden. Eines Morgens befand sich die Nonne einsam in der Kirche. Die Stunde des Gebets hatte für die übrige Klostereinwohnerschaft noch nicht geschlagen. Der so lang von ihr nicht betretene Tempel übte eine gewaltsame Erschütterung auf ihr Herz. Sie warf sich auf den Stufen vor den noch geschlossenen Altarthüren nieder, und indem ihre heiße Stirn den Steinboden berührte, machte ihre zitternde Rechte das Zeichen des Kreuzes auf Brust und Schultern. Ein Geräusch in ihrer Nähe schreckte sie auf, sie erblickte dicht neben sich einen Mann stehen, in einen Mantel gehüllt und den Hut tief im Gesichte. Die Dämmerung der frühen Stunde erfüllte die Halle und bewirkte, daß die düstere Gestalt in kolossalen Umrissen erschien: sie war einem Geist ähnlich, der, aus der Nacht der Grüfte emporgestiegen, die Frist, die ihm noch vor vollem Anbruch des Tages geblieben war, dazu anwandte, die Brust der Lebendigen mit den schauervollen Ahnungen und Gebilden des Jenseits zu füllen. Scholastika, noch immer auf den Knieen liegend, bedeckte ihr Antlitz und stieß einen Laut des Schreckens aus. Un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:43:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:43:38Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/44
Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/44>, abgerufen am 21.11.2024.