Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
I. Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus.

Im vorigen Jahrhunderte gingen im Allgemeinen Philosophie
und Naturwissenschaften gesonderte Wege. Nur der mathemati-
sche Theil lieferte einen kleinen, einseitigen und im Ganzen un-
tergeordneten Berührungspunkt. Kant und seine Nachfolger such-
ten zwar die Verhältnisse beider Disciplinen zu einander genauer
festzusetzen und hierdurch zugleich die frühere so schroffe Stel-
lung beider gegen einander zu vernichten. Allein nur lose blieb das
Band geknüpft und, während in den metaphysichen Anfangsgrün-
den der Naturwissenschaft die mathematische Seite als einendes
Element vorzüglich hervorgehoben ward, dienten die übrigen na-
turwissenschaftlichen Kenntnisse nur zu anschaulicheren Erläute-
rungen der a priori constatirten Sätze oder wurden als Grund-
lage von Analogieen benutzt, welche auf den Gang der streng
wissenschaftlichen Philosophie von gar keinem oder nur höchst
untergeordnetem Einflusse waren. Fichte's Idealismus war dazu
geeignet, die Grenzlinien noch schärfer zu bezeichnen, die einzel-
nen Gebiete noch weiter zu entfernen, und schien durch seine
absondernden Principien nicht nur die innere Natur des subjecti-
ven Geistes von der äusseren objectiven Natur überhaupt distinc-
ter scheiden, sondern sogar diese letztere gegen die erstere als
unwahr darstellen, in ihrer ganzen Wesenheit vernichten und ih-
res unendlichen Einflusses berauben zu wollen. Da trat als noth-
wendig entgegengesetztes Element Schelling auf, fussend auf Vor-
gänger ganz verschiedenartigen Charakters, als Spinoza, Baco,
Leibnitz und Anderen. Die objective Natur wurde mit Nachdruck
und nicht ohne Gewalt in das Gebiet der Philosophie hineinge-
zogen; die einzelnen reellen Objecte in die philosophische Form
geschmiedet, nach geistigen Schemen zusammengestellt, geordnet
und als Typen einer Geist und Körper zugleich umfassenden und
einenden Welt angesehen. Wiewohl Schelling selbst mehr die
physikalisch chemischen Disciplinen zunächst in das Auge fasste,
um ihre einfachen Elemente als allgemeine Urgegensätze und Ur-
metamorphosen darzustellen, so ward doch durch seine Bemühun-
gen anderen gleichgesinnten Männern der erste Antrieb gegeben,
auch auf neuen Feldern der Wissenschaft in derselben Richtung
ihre Kräfte zu nennen. Vor Allen aber sind H. Steffens und L.
Oken zu nennen, welche es sich angelegen seyn liessen, in den
übrigen Zweigen der Naturwissenschaften dasjenige zu vollen-
den, was Schelling in den Reichen der Physik und Chemie an-

I. Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus.

Im vorigen Jahrhunderte gingen im Allgemeinen Philosophie
und Naturwissenschaften gesonderte Wege. Nur der mathemati-
sche Theil lieferte einen kleinen, einseitigen und im Ganzen un-
tergeordneten Berührungspunkt. Kant und seine Nachfolger such-
ten zwar die Verhältnisse beider Disciplinen zu einander genauer
festzusetzen und hierdurch zugleich die frühere so schroffe Stel-
lung beider gegen einander zu vernichten. Allein nur lose blieb das
Band geknüpft und, während in den metaphysichen Anfangsgrün-
den der Naturwissenschaft die mathematische Seite als einendes
Element vorzüglich hervorgehoben ward, dienten die übrigen na-
turwissenschaftlichen Kenntnisse nur zu anschaulicheren Erläute-
rungen der a priori constatirten Sätze oder wurden als Grund-
lage von Analogieen benutzt, welche auf den Gang der streng
wissenschaftlichen Philosophie von gar keinem oder nur höchst
untergeordnetem Einflusse waren. Fichte’s Idealismus war dazu
geeignet, die Grenzlinien noch schärfer zu bezeichnen, die einzel-
nen Gebiete noch weiter zu entfernen, und schien durch seine
absondernden Principien nicht nur die innere Natur des subjecti-
ven Geistes von der äuſseren objectiven Natur überhaupt distinc-
ter scheiden, sondern sogar diese letztere gegen die erstere als
unwahr darstellen, in ihrer ganzen Wesenheit vernichten und ih-
res unendlichen Einflusses berauben zu wollen. Da trat als noth-
wendig entgegengesetztes Element Schelling auf, fuſsend auf Vor-
gänger ganz verschiedenartigen Charakters, als Spinoza, Baco,
Leibnitz und Anderen. Die objective Natur wurde mit Nachdruck
und nicht ohne Gewalt in das Gebiet der Philosophie hineinge-
zogen; die einzelnen reellen Objecte in die philosophische Form
geschmiedet, nach geistigen Schemen zusammengestellt, geordnet
und als Typen einer Geist und Körper zugleich umfassenden und
einenden Welt angesehen. Wiewohl Schelling selbst mehr die
physikalisch chemischen Disciplinen zunächst in das Auge faſste,
um ihre einfachen Elemente als allgemeine Urgegensätze und Ur-
metamorphosen darzustellen, so ward doch durch seine Bemühun-
gen anderen gleichgesinnten Männern der erste Antrieb gegeben,
auch auf neuen Feldern der Wissenschaft in derselben Richtung
ihre Kräfte zu nennen. Vor Allen aber sind H. Steffens und L.
Oken zu nennen, welche es sich angelegen seyn lieſsen, in den
übrigen Zweigen der Naturwissenschaften dasjenige zu vollen-
den, was Schelling in den Reichen der Physik und Chemie an-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0597" n="569"/>
          <fw place="top" type="header">I. Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus.</fw><lb/>
          <p>Im vorigen Jahrhunderte gingen im Allgemeinen Philosophie<lb/>
und Naturwissenschaften gesonderte Wege. Nur der mathemati-<lb/>
sche Theil lieferte einen kleinen, einseitigen und im Ganzen un-<lb/>
tergeordneten Berührungspunkt. Kant und seine Nachfolger such-<lb/>
ten zwar die Verhältnisse beider Disciplinen zu einander genauer<lb/>
festzusetzen und hierdurch zugleich die frühere so schroffe Stel-<lb/>
lung beider gegen einander zu vernichten. Allein nur lose blieb das<lb/>
Band geknüpft und, während in den metaphysichen Anfangsgrün-<lb/>
den der Naturwissenschaft die mathematische Seite als einendes<lb/>
Element vorzüglich hervorgehoben ward, dienten die übrigen na-<lb/>
turwissenschaftlichen Kenntnisse nur zu anschaulicheren Erläute-<lb/>
rungen der <hi rendition="#i">a priori</hi> constatirten Sätze oder wurden als Grund-<lb/>
lage von Analogieen benutzt, welche auf den Gang der streng<lb/>
wissenschaftlichen Philosophie von gar keinem oder nur höchst<lb/>
untergeordnetem Einflusse waren. Fichte&#x2019;s Idealismus war dazu<lb/>
geeignet, die Grenzlinien noch schärfer zu bezeichnen, die einzel-<lb/>
nen Gebiete noch weiter zu entfernen, und schien durch seine<lb/>
absondernden Principien nicht nur die innere Natur des subjecti-<lb/>
ven Geistes von der äu&#x017F;seren objectiven Natur überhaupt distinc-<lb/>
ter scheiden, sondern sogar diese letztere gegen die erstere als<lb/>
unwahr darstellen, in ihrer ganzen Wesenheit vernichten und ih-<lb/>
res unendlichen Einflusses berauben zu wollen. Da trat als noth-<lb/>
wendig entgegengesetztes Element Schelling auf, fu&#x017F;send auf Vor-<lb/>
gänger ganz verschiedenartigen Charakters, als Spinoza, Baco,<lb/>
Leibnitz und Anderen. Die objective Natur wurde mit Nachdruck<lb/>
und nicht ohne Gewalt in das Gebiet der Philosophie hineinge-<lb/>
zogen; die einzelnen reellen Objecte in die philosophische Form<lb/>
geschmiedet, nach geistigen Schemen zusammengestellt, geordnet<lb/>
und als Typen einer Geist und Körper zugleich umfassenden und<lb/>
einenden Welt angesehen. Wiewohl Schelling selbst mehr die<lb/>
physikalisch chemischen Disciplinen zunächst in das Auge fa&#x017F;ste,<lb/>
um ihre einfachen Elemente als allgemeine Urgegensätze und Ur-<lb/>
metamorphosen darzustellen, so ward doch durch seine Bemühun-<lb/>
gen anderen gleichgesinnten Männern der erste Antrieb gegeben,<lb/>
auch auf neuen Feldern der Wissenschaft in derselben Richtung<lb/>
ihre Kräfte zu nennen. Vor Allen aber sind H. Steffens und L.<lb/>
Oken zu nennen, welche es sich angelegen seyn lie&#x017F;sen, in den<lb/>
übrigen Zweigen der Naturwissenschaften dasjenige zu vollen-<lb/>
den, was Schelling in den Reichen der Physik und Chemie an-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[569/0597] I. Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus. Im vorigen Jahrhunderte gingen im Allgemeinen Philosophie und Naturwissenschaften gesonderte Wege. Nur der mathemati- sche Theil lieferte einen kleinen, einseitigen und im Ganzen un- tergeordneten Berührungspunkt. Kant und seine Nachfolger such- ten zwar die Verhältnisse beider Disciplinen zu einander genauer festzusetzen und hierdurch zugleich die frühere so schroffe Stel- lung beider gegen einander zu vernichten. Allein nur lose blieb das Band geknüpft und, während in den metaphysichen Anfangsgrün- den der Naturwissenschaft die mathematische Seite als einendes Element vorzüglich hervorgehoben ward, dienten die übrigen na- turwissenschaftlichen Kenntnisse nur zu anschaulicheren Erläute- rungen der a priori constatirten Sätze oder wurden als Grund- lage von Analogieen benutzt, welche auf den Gang der streng wissenschaftlichen Philosophie von gar keinem oder nur höchst untergeordnetem Einflusse waren. Fichte’s Idealismus war dazu geeignet, die Grenzlinien noch schärfer zu bezeichnen, die einzel- nen Gebiete noch weiter zu entfernen, und schien durch seine absondernden Principien nicht nur die innere Natur des subjecti- ven Geistes von der äuſseren objectiven Natur überhaupt distinc- ter scheiden, sondern sogar diese letztere gegen die erstere als unwahr darstellen, in ihrer ganzen Wesenheit vernichten und ih- res unendlichen Einflusses berauben zu wollen. Da trat als noth- wendig entgegengesetztes Element Schelling auf, fuſsend auf Vor- gänger ganz verschiedenartigen Charakters, als Spinoza, Baco, Leibnitz und Anderen. Die objective Natur wurde mit Nachdruck und nicht ohne Gewalt in das Gebiet der Philosophie hineinge- zogen; die einzelnen reellen Objecte in die philosophische Form geschmiedet, nach geistigen Schemen zusammengestellt, geordnet und als Typen einer Geist und Körper zugleich umfassenden und einenden Welt angesehen. Wiewohl Schelling selbst mehr die physikalisch chemischen Disciplinen zunächst in das Auge faſste, um ihre einfachen Elemente als allgemeine Urgegensätze und Ur- metamorphosen darzustellen, so ward doch durch seine Bemühun- gen anderen gleichgesinnten Männern der erste Antrieb gegeben, auch auf neuen Feldern der Wissenschaft in derselben Richtung ihre Kräfte zu nennen. Vor Allen aber sind H. Steffens und L. Oken zu nennen, welche es sich angelegen seyn lieſsen, in den übrigen Zweigen der Naturwissenschaften dasjenige zu vollen- den, was Schelling in den Reichen der Physik und Chemie an-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/597
Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/597>, abgerufen am 22.11.2024.