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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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VII. Genese der Organe.
welche für sich zu seyn und die Herrschaft über die übrigen Sy-
steme auszuüben streben.

1. Die erste Bildung der Organe selbst hat die Andeutung
der Organcomplexe und Organsysteme zum Vorläufer. Nach den
bisherigen Erfahrungen scheint die Urdarstellung der ersteren nicht
immer der der letzteren voranzugehen. Doch frägt es sich, ob
auch diese Beobachtungen bis in ihre feinsten Nüancirungen rich-
tig sind. Die Urbildung der beiden Hauptorgancomplexe ist näm-
lich die Spaltung der Keimhaut in ein seröses und ein mucöses
Blatt, in das erstere als den Repräsentanten der rein animalen und
das letztere als den Repräsentanten der rein vegetabilischen Or-
gane. Die Urdarstellung der Organsysteme beginnt in etwas ver-
wickelteren Momenten. Zuvörderst ist es der in dem serösen
Blatte sich bildende Primitivstreifen, welcher die thierische Indi-
vidualität überhaupt andeutet. Nächstdem aber die Abschnürung,
welches das Urbild der Individualisation des Embryo als eines
Theilorganismus des Eies bezeichnet. Erst, wenn diese Acte in
ihrer frühesten Form begonnen und mehr oder minder gedauert
haben, kommt es zur Darstellung einzelner Organe.

2. Die einzelnen Organsysteme scheinen zwar unabhängig
von einander sich zu entwickeln. Sie sind aber durch ein höhe-
res Band, die Individualität des ganzen Organismus, gebunden.
Ueberhaupt entsteht jedes Ganze nicht dadurch, dass sich eine
bestimmte Zahl von Einzelnheiten unabhängig von einander dar-
stellen und zuletzt mit einander verbinden, sondern das Ganze ist
von Anfang an das Beherrschende. Es specialisirt sich der Zeit
nach immer mehr und an verschiedenen discreten Punkten. Da-
durch wird aber die höhere Einheit nicht im Mindesten gestört
und aufgehoben. Wir erkennen sie oft nur nicht deshalb, weil
wir diese Einzelnheiten in der Beobachtung wahrnehmen und
das Ganze daher aus dem Auge verlieren. Das geistige Auge ist
hier demselben Fehltritte unterworfen, wie wenn wir z. B. mit
dem leiblichen bei unmittelbarer Anschauung die Niere als ein
ganzes, bei genauerer Zergliederung als einen Complex von Rin-
de, Marksubstanz, Nierenbecken, Nierenkelchen u. dgl., bei mi-
kroscopischer Vergrösserung als eine Menge von gestreckten und
geschlängelten Harngefässen u. dgl., und bei noch stärkerer Ver-
grösserung als eine aus einem dichten mit Körnchen vermischten
Stoffe zusammengesetzte Bildung angesehen. -- Je mehr die Zahl

VII. Genese der Organe.
welche für sich zu seyn und die Herrschaft über die übrigen Sy-
steme auszuüben streben.

1. Die erste Bildung der Organe selbst hat die Andeutung
der Organcomplexe und Organsysteme zum Vorläufer. Nach den
bisherigen Erfahrungen scheint die Urdarstellung der ersteren nicht
immer der der letzteren voranzugehen. Doch frägt es sich, ob
auch diese Beobachtungen bis in ihre feinsten Nüancirungen rich-
tig sind. Die Urbildung der beiden Hauptorgancomplexe ist näm-
lich die Spaltung der Keimhaut in ein seröses und ein mucöses
Blatt, in das erstere als den Repräsentanten der rein animalen und
das letztere als den Repräsentanten der rein vegetabilischen Or-
gane. Die Urdarstellung der Organsysteme beginnt in etwas ver-
wickelteren Momenten. Zuvörderst ist es der in dem serösen
Blatte sich bildende Primitivstreifen, welcher die thierische Indi-
vidualität überhaupt andeutet. Nächstdem aber die Abschnürung,
welches das Urbild der Individualisation des Embryo als eines
Theilorganismus des Eies bezeichnet. Erst, wenn diese Acte in
ihrer frühesten Form begonnen und mehr oder minder gedauert
haben, kommt es zur Darstellung einzelner Organe.

2. Die einzelnen Organsysteme scheinen zwar unabhängig
von einander sich zu entwickeln. Sie sind aber durch ein höhe-
res Band, die Individualität des ganzen Organismus, gebunden.
Ueberhaupt entsteht jedes Ganze nicht dadurch, daſs sich eine
bestimmte Zahl von Einzelnheiten unabhängig von einander dar-
stellen und zuletzt mit einander verbinden, sondern das Ganze ist
von Anfang an das Beherrschende. Es specialisirt sich der Zeit
nach immer mehr und an verschiedenen discreten Punkten. Da-
durch wird aber die höhere Einheit nicht im Mindesten gestört
und aufgehoben. Wir erkennen sie oft nur nicht deshalb, weil
wir diese Einzelnheiten in der Beobachtung wahrnehmen und
das Ganze daher aus dem Auge verlieren. Das geistige Auge ist
hier demselben Fehltritte unterworfen, wie wenn wir z. B. mit
dem leiblichen bei unmittelbarer Anschauung die Niere als ein
ganzes, bei genauerer Zergliederung als einen Complex von Rin-
de, Marksubstanz, Nierenbecken, Nierenkelchen u. dgl., bei mi-
kroscopischer Vergröſserung als eine Menge von gestreckten und
geschlängelten Harngefäſsen u. dgl., und bei noch stärkerer Ver-
gröſserung als eine aus einem dichten mit Körnchen vermischten
Stoffe zusammengesetzte Bildung angesehen. — Je mehr die Zahl

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[613/0641] VII. Genese der Organe. welche für sich zu seyn und die Herrschaft über die übrigen Sy- steme auszuüben streben. 1. Die erste Bildung der Organe selbst hat die Andeutung der Organcomplexe und Organsysteme zum Vorläufer. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint die Urdarstellung der ersteren nicht immer der der letzteren voranzugehen. Doch frägt es sich, ob auch diese Beobachtungen bis in ihre feinsten Nüancirungen rich- tig sind. Die Urbildung der beiden Hauptorgancomplexe ist näm- lich die Spaltung der Keimhaut in ein seröses und ein mucöses Blatt, in das erstere als den Repräsentanten der rein animalen und das letztere als den Repräsentanten der rein vegetabilischen Or- gane. Die Urdarstellung der Organsysteme beginnt in etwas ver- wickelteren Momenten. Zuvörderst ist es der in dem serösen Blatte sich bildende Primitivstreifen, welcher die thierische Indi- vidualität überhaupt andeutet. Nächstdem aber die Abschnürung, welches das Urbild der Individualisation des Embryo als eines Theilorganismus des Eies bezeichnet. Erst, wenn diese Acte in ihrer frühesten Form begonnen und mehr oder minder gedauert haben, kommt es zur Darstellung einzelner Organe. 2. Die einzelnen Organsysteme scheinen zwar unabhängig von einander sich zu entwickeln. Sie sind aber durch ein höhe- res Band, die Individualität des ganzen Organismus, gebunden. Ueberhaupt entsteht jedes Ganze nicht dadurch, daſs sich eine bestimmte Zahl von Einzelnheiten unabhängig von einander dar- stellen und zuletzt mit einander verbinden, sondern das Ganze ist von Anfang an das Beherrschende. Es specialisirt sich der Zeit nach immer mehr und an verschiedenen discreten Punkten. Da- durch wird aber die höhere Einheit nicht im Mindesten gestört und aufgehoben. Wir erkennen sie oft nur nicht deshalb, weil wir diese Einzelnheiten in der Beobachtung wahrnehmen und das Ganze daher aus dem Auge verlieren. Das geistige Auge ist hier demselben Fehltritte unterworfen, wie wenn wir z. B. mit dem leiblichen bei unmittelbarer Anschauung die Niere als ein ganzes, bei genauerer Zergliederung als einen Complex von Rin- de, Marksubstanz, Nierenbecken, Nierenkelchen u. dgl., bei mi- kroscopischer Vergröſserung als eine Menge von gestreckten und geschlängelten Harngefäſsen u. dgl., und bei noch stärkerer Ver- gröſserung als eine aus einem dichten mit Körnchen vermischten Stoffe zusammengesetzte Bildung angesehen. — Je mehr die Zahl

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/641>, abgerufen am 22.11.2024.