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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung.
wickelung der Urstoff in einer Form angelegt, welche im allge-
meinsten Umrisse der des zukünftigen Organes entspricht. Seine
innere Organisation enthält noch nicht die späteren individuellen
Theile, ist jedoch auf bestimmte Weise charakterisirt, wie wir
oben auseinanderzusetzen versucht haben. Nun theilt sich das
Organ äusserlich in eine bestimmte Anzahl von Theilen; innerlich
entstehen die isolirten Organtheile. Beide Processe ereignen sich
scheinbar unabhängig von einander. Dass sie jedoch durch eine
höhere Einheit zusammengehalten und bestimmt werden, zeigt
der Umstand, dass sie zuletzt zu einem Ziele zusammenstossen
und sich verbinden, in ihrer Totalität nämlich zu dem bestimmt
charakterisirten und in seinem ausgebildeten Zustande völlig in-
dividualisirten Organe. Die Gewebe (nach dem von uns definir-
ten Sinne) entstehen zuletzt vollständig, wenn Organe und Or-
gantheile sich gänzlich individualisirt haben.

Alle entferntesten Organtheile werden in einer bestimmten
Grösse angelegt, welche absolut und relativ im Ganzen nur we-
nigen Schwankungen unterworfen ist. Im Allgemeinen verklei-
nern sie sich zuerst und vergrössern sich dann wiederum. Das-
selbe gilt auch von der relativen Grösse (in Verhältniss sowohl
zu einander als zu dem ganzen Organe), doch schliesst hier oft
die Metamorphosenreihe nicht mit Vergrösserung, sondern mit
Verkleinerung. Ihre absolute Grösse dagegen nimmt fortwährend
bis zu dem völlig ausgebildeten Zustande zu. Die Gewebe als
die allereinfachsten Organtheile haben so enge Grenzen der Grö-
ssen, innerhalb deren sie sich in dieser Rücksicht bewegen, dass sie
wohl ohne bedeutenden Fehler gleich Null geachtet werden dürften.
Man sieht also von dem Organe bis zu den einfachsten Organtheilen,
den Geweben, hinab diese durch die individuelle Entwickelung
bedingten relativen Grössenvariationen in directer Reihe abnehmen.

Vergleichen wir endlich die einzelnen Organtheile in Bezug
auf ihre Genese unter einander, so sehen wir, dass scheinbar
gleichartige auf differente Weise entstehen. Allein eben diese
Differenz kann uns auch als sicheres Zeichen dienen, dass ihre
Identität nur scheinbar ist. Eines der einleuchtendsten Beispiele
dürften die Muskeln geben. Man hat zwar schon längst functio-
nell die willkührlichen Muskeln von den unwillkührlichen unter-
schieden und mit Unrecht die zwischen beiden morphologisch-
histiologisch Statt findenden Differenzen nicht berücksichtigt. So

Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung.
wickelung der Urstoff in einer Form angelegt, welche im allge-
meinsten Umrisse der des zukünftigen Organes entspricht. Seine
innere Organisation enthält noch nicht die späteren individuellen
Theile, ist jedoch auf bestimmte Weise charakterisirt, wie wir
oben auseinanderzusetzen versucht haben. Nun theilt sich das
Organ äuſserlich in eine bestimmte Anzahl von Theilen; innerlich
entstehen die isolirten Organtheile. Beide Processe ereignen sich
scheinbar unabhängig von einander. Daſs sie jedoch durch eine
höhere Einheit zusammengehalten und bestimmt werden, zeigt
der Umstand, daſs sie zuletzt zu einem Ziele zusammenstoſsen
und sich verbinden, in ihrer Totalität nämlich zu dem bestimmt
charakterisirten und in seinem ausgebildeten Zustande völlig in-
dividualisirten Organe. Die Gewebe (nach dem von uns definir-
ten Sinne) entstehen zuletzt vollständig, wenn Organe und Or-
gantheile sich gänzlich individualisirt haben.

Alle entferntesten Organtheile werden in einer bestimmten
Gröſse angelegt, welche absolut und relativ im Ganzen nur we-
nigen Schwankungen unterworfen ist. Im Allgemeinen verklei-
nern sie sich zuerst und vergröſsern sich dann wiederum. Das-
selbe gilt auch von der relativen Gröſse (in Verhältniſs sowohl
zu einander als zu dem ganzen Organe), doch schlieſst hier oft
die Metamorphosenreihe nicht mit Vergröſserung, sondern mit
Verkleinerung. Ihre absolute Gröſse dagegen nimmt fortwährend
bis zu dem völlig ausgebildeten Zustande zu. Die Gewebe als
die allereinfachsten Organtheile haben so enge Grenzen der Grö-
ſsen, innerhalb deren sie sich in dieser Rücksicht bewegen, daſs sie
wohl ohne bedeutenden Fehler gleich Null geachtet werden dürften.
Man sieht also von dem Organe bis zu den einfachsten Organtheilen,
den Geweben, hinab diese durch die individuelle Entwickelung
bedingten relativen Gröſsenvariationen in directer Reihe abnehmen.

Vergleichen wir endlich die einzelnen Organtheile in Bezug
auf ihre Genese unter einander, so sehen wir, daſs scheinbar
gleichartige auf differente Weise entstehen. Allein eben diese
Differenz kann uns auch als sicheres Zeichen dienen, daſs ihre
Identität nur scheinbar ist. Eines der einleuchtendsten Beispiele
dürften die Muskeln geben. Man hat zwar schon längst functio-
nell die willkührlichen Muskeln von den unwillkührlichen unter-
schieden und mit Unrecht die zwischen beiden morphologisch-
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[650/0678] Fragmente z. Gesetzlehre d. individuellen Entwickelung. wickelung der Urstoff in einer Form angelegt, welche im allge- meinsten Umrisse der des zukünftigen Organes entspricht. Seine innere Organisation enthält noch nicht die späteren individuellen Theile, ist jedoch auf bestimmte Weise charakterisirt, wie wir oben auseinanderzusetzen versucht haben. Nun theilt sich das Organ äuſserlich in eine bestimmte Anzahl von Theilen; innerlich entstehen die isolirten Organtheile. Beide Processe ereignen sich scheinbar unabhängig von einander. Daſs sie jedoch durch eine höhere Einheit zusammengehalten und bestimmt werden, zeigt der Umstand, daſs sie zuletzt zu einem Ziele zusammenstoſsen und sich verbinden, in ihrer Totalität nämlich zu dem bestimmt charakterisirten und in seinem ausgebildeten Zustande völlig in- dividualisirten Organe. Die Gewebe (nach dem von uns definir- ten Sinne) entstehen zuletzt vollständig, wenn Organe und Or- gantheile sich gänzlich individualisirt haben. Alle entferntesten Organtheile werden in einer bestimmten Gröſse angelegt, welche absolut und relativ im Ganzen nur we- nigen Schwankungen unterworfen ist. Im Allgemeinen verklei- nern sie sich zuerst und vergröſsern sich dann wiederum. Das- selbe gilt auch von der relativen Gröſse (in Verhältniſs sowohl zu einander als zu dem ganzen Organe), doch schlieſst hier oft die Metamorphosenreihe nicht mit Vergröſserung, sondern mit Verkleinerung. Ihre absolute Gröſse dagegen nimmt fortwährend bis zu dem völlig ausgebildeten Zustande zu. Die Gewebe als die allereinfachsten Organtheile haben so enge Grenzen der Grö- ſsen, innerhalb deren sie sich in dieser Rücksicht bewegen, daſs sie wohl ohne bedeutenden Fehler gleich Null geachtet werden dürften. Man sieht also von dem Organe bis zu den einfachsten Organtheilen, den Geweben, hinab diese durch die individuelle Entwickelung bedingten relativen Gröſsenvariationen in directer Reihe abnehmen. Vergleichen wir endlich die einzelnen Organtheile in Bezug auf ihre Genese unter einander, so sehen wir, daſs scheinbar gleichartige auf differente Weise entstehen. Allein eben diese Differenz kann uns auch als sicheres Zeichen dienen, daſs ihre Identität nur scheinbar ist. Eines der einleuchtendsten Beispiele dürften die Muskeln geben. Man hat zwar schon längst functio- nell die willkührlichen Muskeln von den unwillkührlichen unter- schieden und mit Unrecht die zwischen beiden morphologisch- histiologisch Statt findenden Differenzen nicht berücksichtigt. So

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/678>, abgerufen am 22.05.2024.