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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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III. Das Ei während der Fruchten[t]wickelung.
fach untersucht worden ist und daher eine so grosse Menge von Be-
schreibungen aufzuweisen hat, wie kein anderer Theil der Entwik-
kelungsgeschichte. Wenn uns diese vielfachen Bemühungen eine
Anzahl besonderer und einzelner Data geliefert haben, deren Ueber-
sicht durch ihre Menge fast unübersehbar wird, so zeigt es sich
nirgends deutlicher als hier, wie wenig wir solide Bereicherungen
der Wissenschaft von isolirten und vereinzelten Beobachtungen zu
erhalten im Stande sind, wie sehr der menschliche Geist strauchelt,
sobald er die Entwickelung eines Organes, Organtheiles oder Ge-
webes nicht durch Beobachtung vollständig verfolgt, sondern ent-
weder durch Hypothesen ausschmückt oder die Lücken nach Ana-
logien, Inductionen oder gar willkührlichen Principien ergänzt,
sobald er das Untaugliche für Taugliches hält oder ausgiebt, und
von krankhaften, degenerirten Produkten auf gesunde, die er gar
nicht oder wenigstens nicht vollständig kennt, sich Schlüsse er-
laubt -- kurz sobald er Wege einschlägt, welche von denen der
wahren und ächten Naturerkenntniss sich entfernen. Freilich
vereinigen sich hier auch eine Reihe der grössten Schwierigkeiten
und Hindernisse mit einander. Die Beobachtung selbst ist nur
schwer mit aller nothwendigen Sicherheit zu machen; noch schwie-
riger ist es, die Gegenstände zu erreichen und selbst hierunter ist
die bei Weitem grösste Menge krankhaft verändert. Was man
an Abortus gefunden, kann nur dann erst mit Sicherheit benutzt
werden, wenn man Leichname genau untersucht hat von Frauen,
welche in den ersten Monaten der Schwangerschaft gestorben
sind. Sonst wird die Beobachtung unsicher und in Vielem noth-
wendiger Weise unrichtig. Da aber der bei Weitem grösste Theil
der bisher bekannten Erfahrungen, welche hierher gehören, von
der oben bezeichneten Art sind, so sieht man leicht ein, wie sie
bei aller Richtigkeit und Treue der Beobachtung, bei aller Bürg-
schaft durch grosse und ausgezeichnete Auctoritäten sowohl, als
durch vielfache Bestätigung der verschiedenen Observationen, ihrer
Natur nach von untergeordneter Bedeutung seyn, und jenen Er-
fahrungen nachstehen müssen, welche aus den Untersuchungen der
Leichen Schwangerer entnommen sind. Aber auch bei den Re-
lationen dieser finden sich, wie wir bald sehen werden, noch
Widersprüche in Menge. Ueberhaupt ist es auf diesem Gebiete
der Entwickelungsgeschichte eine Hauptschwierigkeit, die Ueber-
sicht des durch die Literatur Gegebenen zu erhalten. Bei

III. Das Ei während der Fruchten[t]wickelung.
fach untersucht worden ist und daher eine so groſse Menge von Be-
schreibungen aufzuweisen hat, wie kein anderer Theil der Entwik-
kelungsgeschichte. Wenn uns diese vielfachen Bemühungen eine
Anzahl besonderer und einzelner Data geliefert haben, deren Ueber-
sicht durch ihre Menge fast unübersehbar wird, so zeigt es sich
nirgends deutlicher als hier, wie wenig wir solide Bereicherungen
der Wissenschaft von isolirten und vereinzelten Beobachtungen zu
erhalten im Stande sind, wie sehr der menschliche Geist strauchelt,
sobald er die Entwickelung eines Organes, Organtheiles oder Ge-
webes nicht durch Beobachtung vollständig verfolgt, sondern ent-
weder durch Hypothesen ausschmückt oder die Lücken nach Ana-
logien, Inductionen oder gar willkührlichen Principien ergänzt,
sobald er das Untaugliche für Taugliches hält oder ausgiebt, und
von krankhaften, degenerirten Produkten auf gesunde, die er gar
nicht oder wenigstens nicht vollständig kennt, sich Schlüsse er-
laubt — kurz sobald er Wege einschlägt, welche von denen der
wahren und ächten Naturerkenntniſs sich entfernen. Freilich
vereinigen sich hier auch eine Reihe der gröſsten Schwierigkeiten
und Hindernisse mit einander. Die Beobachtung selbst ist nur
schwer mit aller nothwendigen Sicherheit zu machen; noch schwie-
riger ist es, die Gegenstände zu erreichen und selbst hierunter ist
die bei Weitem gröſste Menge krankhaft verändert. Was man
an Abortus gefunden, kann nur dann erst mit Sicherheit benutzt
werden, wenn man Leichname genau untersucht hat von Frauen,
welche in den ersten Monaten der Schwangerschaft gestorben
sind. Sonst wird die Beobachtung unsicher und in Vielem noth-
wendiger Weise unrichtig. Da aber der bei Weitem gröſste Theil
der bisher bekannten Erfahrungen, welche hierher gehören, von
der oben bezeichneten Art sind, so sieht man leicht ein, wie sie
bei aller Richtigkeit und Treue der Beobachtung, bei aller Bürg-
schaft durch groſse und ausgezeichnete Auctoritäten sowohl, als
durch vielfache Bestätigung der verschiedenen Observationen, ihrer
Natur nach von untergeordneter Bedeutung seyn, und jenen Er-
fahrungen nachstehen müssen, welche aus den Untersuchungen der
Leichen Schwangerer entnommen sind. Aber auch bei den Re-
lationen dieser finden sich, wie wir bald sehen werden, noch
Widersprüche in Menge. Ueberhaupt ist es auf diesem Gebiete
der Entwickelungsgeschichte eine Hauptschwierigkeit, die Ueber-
sicht des durch die Literatur Gegebenen zu erhalten. Bei

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[43/0071] III. Das Ei während der Fruchtentwickelung. fach untersucht worden ist und daher eine so groſse Menge von Be- schreibungen aufzuweisen hat, wie kein anderer Theil der Entwik- kelungsgeschichte. Wenn uns diese vielfachen Bemühungen eine Anzahl besonderer und einzelner Data geliefert haben, deren Ueber- sicht durch ihre Menge fast unübersehbar wird, so zeigt es sich nirgends deutlicher als hier, wie wenig wir solide Bereicherungen der Wissenschaft von isolirten und vereinzelten Beobachtungen zu erhalten im Stande sind, wie sehr der menschliche Geist strauchelt, sobald er die Entwickelung eines Organes, Organtheiles oder Ge- webes nicht durch Beobachtung vollständig verfolgt, sondern ent- weder durch Hypothesen ausschmückt oder die Lücken nach Ana- logien, Inductionen oder gar willkührlichen Principien ergänzt, sobald er das Untaugliche für Taugliches hält oder ausgiebt, und von krankhaften, degenerirten Produkten auf gesunde, die er gar nicht oder wenigstens nicht vollständig kennt, sich Schlüsse er- laubt — kurz sobald er Wege einschlägt, welche von denen der wahren und ächten Naturerkenntniſs sich entfernen. Freilich vereinigen sich hier auch eine Reihe der gröſsten Schwierigkeiten und Hindernisse mit einander. Die Beobachtung selbst ist nur schwer mit aller nothwendigen Sicherheit zu machen; noch schwie- riger ist es, die Gegenstände zu erreichen und selbst hierunter ist die bei Weitem gröſste Menge krankhaft verändert. Was man an Abortus gefunden, kann nur dann erst mit Sicherheit benutzt werden, wenn man Leichname genau untersucht hat von Frauen, welche in den ersten Monaten der Schwangerschaft gestorben sind. Sonst wird die Beobachtung unsicher und in Vielem noth- wendiger Weise unrichtig. Da aber der bei Weitem gröſste Theil der bisher bekannten Erfahrungen, welche hierher gehören, von der oben bezeichneten Art sind, so sieht man leicht ein, wie sie bei aller Richtigkeit und Treue der Beobachtung, bei aller Bürg- schaft durch groſse und ausgezeichnete Auctoritäten sowohl, als durch vielfache Bestätigung der verschiedenen Observationen, ihrer Natur nach von untergeordneter Bedeutung seyn, und jenen Er- fahrungen nachstehen müssen, welche aus den Untersuchungen der Leichen Schwangerer entnommen sind. Aber auch bei den Re- lationen dieser finden sich, wie wir bald sehen werden, noch Widersprüche in Menge. Ueberhaupt ist es auf diesem Gebiete der Entwickelungsgeschichte eine Hauptschwierigkeit, die Ueber- sicht des durch die Literatur Gegebenen zu erhalten. Bei

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/71>, abgerufen am 22.11.2024.