überzeugt zu sein, daß die Konstitution der Kabale Thür und Thor öffne. Menschen, die nichts zu verlieren haben, Fremde zum Theil, wovon niemand weiß, woher sie kommen, drängen sich vor. Die besten Köpfe fühlen sich beleidigt und treten zurück. Von achttausend Aktivbürgern in Straßburg gingen nur vierhun¬ dert zu den Wahlen. Von sechzigtausend in Paris nur zehntau¬ send. Und so ist es verhältnißmäßig durch ganz Frankreich. Ein Gemeiner unter der Nationalgarde bekömmt täglich fünfzehn Sous. Ein Gemeiner von den Linientruppen täglich acht Sous. Die undisciplinirten Nationalgarden haben den Rang in allem vor den alten, bewährten Truppen. Daher die äußerste gegen¬ seitige Erbitterung. Daher sind die Linientruppen fast alle gegen die Konstitution. -- Nicht minder stark ist die Religionserbitte¬ rung. Die Kirchen der geschwornen Priester sind leer; und die ungeschwornen lassen heimlich nichts unversucht, ihren Anhang zu vergrößern. Zu allem dem kömmt noch der Mangel an Geld und der entsetzliche Verlust der Assignaten; sie verlieren vierzig Prozent. Alle schlechte Menschen nehmen diesen Zeitpunkt wahr, um ihre Schulden abzutragen, die zum Theil in baarem Gelde gemacht wurden. Kurz, die Ungerechtigkeiten sind ohne Zahl, die Kabalen ohne Maß, die Zerrüttungen ohne Gränzen. Noth und Erbitterung ist allgemein, und nur eine gewaltsame, blutige Krise -- in deren Wünschung allein sich alle, alle Köpfe, aus Hoffnung und Verzweiflung, vereinigen -- wird den Jammer zu gleicher Zeit auf's äußerste treiben und endigen können. Doch glaub' ich, daß Jahrhunderte erfordert werden, die Spuren der traurigen Tage ganz zu verwischen! -- Ich schriebe gern noch weiter, aber die Post geht fort, und ich möchte gern den Brief noch heute fortsenden. -- Leben Sie also wohl. Empfehlen Sie mich dem Herrn Vetter, den lieben Kleinen, dem Gries¬ bach'schen Hause -- und bleiben Sie ein bischen gut Ihrem Sie
uͤberzeugt zu ſein, daß die Konſtitution der Kabale Thuͤr und Thor oͤffne. Menſchen, die nichts zu verlieren haben, Fremde zum Theil, wovon niemand weiß, woher ſie kommen, draͤngen ſich vor. Die beſten Koͤpfe fuͤhlen ſich beleidigt und treten zuruͤck. Von achttauſend Aktivbuͤrgern in Straßburg gingen nur vierhun¬ dert zu den Wahlen. Von ſechzigtauſend in Paris nur zehntau¬ ſend. Und ſo iſt es verhaͤltnißmaͤßig durch ganz Frankreich. Ein Gemeiner unter der Nationalgarde bekoͤmmt taͤglich fuͤnfzehn Sous. Ein Gemeiner von den Linientruppen taͤglich acht Sous. Die undiſciplinirten Nationalgarden haben den Rang in allem vor den alten, bewaͤhrten Truppen. Daher die aͤußerſte gegen¬ ſeitige Erbitterung. Daher ſind die Linientruppen faſt alle gegen die Konſtitution. — Nicht minder ſtark iſt die Religionserbitte¬ rung. Die Kirchen der geſchwornen Prieſter ſind leer; und die ungeſchwornen laſſen heimlich nichts unverſucht, ihren Anhang zu vergroͤßern. Zu allem dem koͤmmt noch der Mangel an Geld und der entſetzliche Verluſt der Aſſignaten; ſie verlieren vierzig Prozent. Alle ſchlechte Menſchen nehmen dieſen Zeitpunkt wahr, um ihre Schulden abzutragen, die zum Theil in baarem Gelde gemacht wurden. Kurz, die Ungerechtigkeiten ſind ohne Zahl, die Kabalen ohne Maß, die Zerruͤttungen ohne Graͤnzen. Noth und Erbitterung iſt allgemein, und nur eine gewaltſame, blutige Kriſe — in deren Wuͤnſchung allein ſich alle, alle Koͤpfe, aus Hoffnung und Verzweiflung, vereinigen — wird den Jammer zu gleicher Zeit auf’s aͤußerſte treiben und endigen koͤnnen. Doch glaub’ ich, daß Jahrhunderte erfordert werden, die Spuren der traurigen Tage ganz zu verwiſchen! — Ich ſchriebe gern noch weiter, aber die Poſt geht fort, und ich moͤchte gern den Brief noch heute fortſenden. — Leben Sie alſo wohl. Empfehlen Sie mich dem Herrn Vetter, den lieben Kleinen, dem Gries¬ bach’ſchen Hauſe — und bleiben Sie ein bischen gut Ihrem Sie
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uͤberzeugt zu ſein, daß die Konſtitution der Kabale Thuͤr und
Thor oͤffne. Menſchen, die nichts zu verlieren haben, Fremde
zum Theil, wovon niemand weiß, woher ſie kommen, draͤngen
ſich vor. Die beſten Koͤpfe fuͤhlen ſich beleidigt und treten zuruͤck.
Von achttauſend Aktivbuͤrgern in Straßburg gingen nur vierhun¬
dert zu den Wahlen. Von ſechzigtauſend in Paris nur zehntau¬
ſend. Und ſo iſt es verhaͤltnißmaͤßig durch ganz Frankreich. Ein
Gemeiner unter der Nationalgarde bekoͤmmt taͤglich fuͤnfzehn
Sous. Ein Gemeiner von den Linientruppen taͤglich acht Sous.
Die undiſciplinirten Nationalgarden haben den Rang in allem
vor den alten, bewaͤhrten Truppen. Daher die aͤußerſte gegen¬
ſeitige Erbitterung. Daher ſind die Linientruppen faſt alle gegen
die Konſtitution. — Nicht minder ſtark iſt die Religionserbitte¬
rung. Die Kirchen der geſchwornen Prieſter ſind leer; und die
ungeſchwornen laſſen heimlich nichts unverſucht, ihren Anhang
zu vergroͤßern. Zu allem dem koͤmmt noch der Mangel an Geld
und der entſetzliche Verluſt der Aſſignaten; ſie verlieren vierzig
Prozent. Alle ſchlechte Menſchen nehmen dieſen Zeitpunkt wahr,
um ihre Schulden abzutragen, die zum Theil in baarem Gelde
gemacht wurden. Kurz, die Ungerechtigkeiten ſind ohne Zahl,
die Kabalen ohne Maß, die Zerruͤttungen ohne Graͤnzen. Noth
und Erbitterung iſt allgemein, und nur eine gewaltſame, blutige
Kriſe — in deren Wuͤnſchung allein ſich alle, alle Koͤpfe, aus
Hoffnung und Verzweiflung, vereinigen — wird den Jammer
zu gleicher Zeit auf’s aͤußerſte treiben und endigen koͤnnen. Doch
glaub’ ich, daß Jahrhunderte erfordert werden, die Spuren der
traurigen Tage ganz zu verwiſchen! — Ich ſchriebe gern noch
weiter, aber die Poſt geht fort, und ich moͤchte gern den Brief
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/26>, abgerufen am 21.11.2024.
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