und meine Religion nicht den Gedanken in mir lebendig erhalten hätte, daß, wenn mein Leben in den Plan der Vorsehung zur Erziehung der Menschheit gehörte, sie auch für dasselbe sorgen würde, und wenn es nur ein Glied in der Kette der Naturwesen sein sollte, es für mich auch keinen Werth haben und ich nichts daran ver¬ lieren könnte. Dieser Gedanke war stets mein Trost in allen Gefahren, und damals erhielt er meine Kraft, daß ich, ohne mich um die entfernteste Zukunft zu be¬ kümmern, mich entschloß, ein Reise zu machen und den Zufall über mich walten zu lassen. Um meinen Lesern meine Schwermuth begreiflich zu machen, muß ich noch bemerken, daß ich eine starke Abneigung hatte, unter den Aerzten meiner Vaterstadt zu leben, weil sie mich, so wie die übrigen Fakultätsgelehrten, zu hassen schienen; daß ich auf keinen einzigen Gönner zu rechnen hatte, weil ich nur daran dachte, die Freundschaft derer, die ich achtete, aber mir die Gewogenheit derer, die mir nützen konnten, zu erwerben. Um diesen Zug meines Karakters zu erklären, muß ich noch einmal auf die Umstände meiner frühern Bildung zurückgehen.
Mein Vater hatte bei einer fröhlichen Laune das Talent, die meisten Menschen bis zur Täuschung nach¬ zuahmen. Ich erinnere mich noch, daß ein Bierwirth, als er an der Thüre seiner Schenkstube stand, während mein Vater, der immer seine Rolle spielte, mit ängst¬ licher Verlegenheit ausrief: "Nun weiß ich nicht, bin
und meine Religion nicht den Gedanken in mir lebendig erhalten haͤtte, daß, wenn mein Leben in den Plan der Vorſehung zur Erziehung der Menſchheit gehoͤrte, ſie auch fuͤr daſſelbe ſorgen wuͤrde, und wenn es nur ein Glied in der Kette der Naturweſen ſein ſollte, es fuͤr mich auch keinen Werth haben und ich nichts daran ver¬ lieren koͤnnte. Dieſer Gedanke war ſtets mein Troſt in allen Gefahren, und damals erhielt er meine Kraft, daß ich, ohne mich um die entfernteſte Zukunft zu be¬ kuͤmmern, mich entſchloß, ein Reiſe zu machen und den Zufall uͤber mich walten zu laſſen. Um meinen Leſern meine Schwermuth begreiflich zu machen, muß ich noch bemerken, daß ich eine ſtarke Abneigung hatte, unter den Aerzten meiner Vaterſtadt zu leben, weil ſie mich, ſo wie die uͤbrigen Fakultaͤtsgelehrten, zu haſſen ſchienen; daß ich auf keinen einzigen Goͤnner zu rechnen hatte, weil ich nur daran dachte, die Freundſchaft derer, die ich achtete, aber mir die Gewogenheit derer, die mir nuͤtzen konnten, zu erwerben. Um dieſen Zug meines Karakters zu erklaͤren, muß ich noch einmal auf die Umſtaͤnde meiner fruͤhern Bildung zuruͤckgehen.
Mein Vater hatte bei einer froͤhlichen Laune das Talent, die meiſten Menſchen bis zur Taͤuſchung nach¬ zuahmen. Ich erinnere mich noch, daß ein Bierwirth, als er an der Thuͤre ſeiner Schenkſtube ſtand, waͤhrend mein Vater, der immer ſeine Rolle ſpielte, mit aͤngſt¬ licher Verlegenheit ausrief: „Nun weiß ich nicht, bin
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und meine Religion nicht den Gedanken in mir lebendig
erhalten haͤtte, daß, wenn mein Leben in den Plan der
Vorſehung zur Erziehung der Menſchheit gehoͤrte, ſie
auch fuͤr daſſelbe ſorgen wuͤrde, und wenn es nur ein
Glied in der Kette der Naturweſen ſein ſollte, es fuͤr
mich auch keinen Werth haben und ich nichts daran ver¬
lieren koͤnnte. Dieſer Gedanke war ſtets mein Troſt in
allen Gefahren, und damals erhielt er meine Kraft,
daß ich, ohne mich um die entfernteſte Zukunft zu be¬
kuͤmmern, mich entſchloß, ein Reiſe zu machen und den
Zufall uͤber mich walten zu laſſen. Um meinen Leſern
meine Schwermuth begreiflich zu machen, muß ich noch
bemerken, daß ich eine ſtarke Abneigung hatte, unter
den Aerzten meiner Vaterſtadt zu leben, weil ſie mich,
ſo wie die uͤbrigen Fakultaͤtsgelehrten, zu haſſen ſchienen;
daß ich auf keinen einzigen Goͤnner zu rechnen hatte,
weil ich nur daran dachte, die Freundſchaft derer, die
ich achtete, aber mir die Gewogenheit derer, die mir
nuͤtzen konnten, zu erwerben. Um dieſen Zug meines
Karakters zu erklaͤren, muß ich noch einmal auf die
Umſtaͤnde meiner fruͤhern Bildung zuruͤckgehen.
Mein Vater hatte bei einer froͤhlichen Laune das
Talent, die meiſten Menſchen bis zur Taͤuſchung nach¬
zuahmen. Ich erinnere mich noch, daß ein Bierwirth,
als er an der Thuͤre ſeiner Schenkſtube ſtand, waͤhrend
mein Vater, der immer ſeine Rolle ſpielte, mit aͤngſt¬
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/267>, abgerufen am 24.11.2024.
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