Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

hat, die unerkennbar gewordene Verwicklung der ewigen
Legitimimät mit deren zeitlicher Usurpation, gerade dies
ist ja der Stoff, den die Poesie einer solchen Epoche
aufnehmen und verarbeiten muß, wenn sie selber nicht
auf das Leben verzichten will. Die Masse der Zeitge¬
nossen vermag daher den Dichter wohl zu bewundern,
aber nicht vollständig zu verstehen; sie wird seine Be¬
richte wie seine Intentionen tadeln; doch eine spätere
Zeit stellt unfehlbar auch in dieser Hinsicht die Gerech¬
tigkeit her, und erkennt an, wie in allen Wagnissen
des Herzens und Freveln des Geistes der Künstler un¬
schuldig und fromm, in aller Sinnlichkeit keusch und
rein bleibt, gleich dem geistlichen Lehrer, der ohne
Scheu jedem Uebertritt und Irrthum nachgeht, ihre
Namen und Eigenschaften nennt, und selbst in die Ab¬
gründe der Nacht sich versenkt, um mit dem ihnen
entrissenen Leben bereichert zu dem Lichte wieder auf¬
zutauchen. Nicht anders thut der Dichter, insofern er
es wahrhaft ist; er kann nur aufhören sittlich zu sein,
wo er aufhört Dichter zu sein.

Frühzeitig empfand Göthe die Verwickelungen einer
in sich selbst uneinigen Welt, in deren Mitte sein
eignes Leben erwacht war und emporstieg. Die ersten
Werke seines Genius, Werther, Götz, Faust, Stella,
enthalten den Drang eines innern Lebens, das mit
den ihm von der äußern Welt angebotenen Formen
unruhig kämpft, sie nicht mehr erfüllen noch von ihnen

hat, die unerkennbar gewordene Verwicklung der ewigen
Legitimimaͤt mit deren zeitlicher Uſurpation, gerade dies
iſt ja der Stoff, den die Poeſie einer ſolchen Epoche
aufnehmen und verarbeiten muß, wenn ſie ſelber nicht
auf das Leben verzichten will. Die Maſſe der Zeitge¬
noſſen vermag daher den Dichter wohl zu bewundern,
aber nicht vollſtaͤndig zu verſtehen; ſie wird ſeine Be¬
richte wie ſeine Intentionen tadeln; doch eine ſpaͤtere
Zeit ſtellt unfehlbar auch in dieſer Hinſicht die Gerech¬
tigkeit her, und erkennt an, wie in allen Wagniſſen
des Herzens und Freveln des Geiſtes der Kuͤnſtler un¬
ſchuldig und fromm, in aller Sinnlichkeit keuſch und
rein bleibt, gleich dem geiſtlichen Lehrer, der ohne
Scheu jedem Uebertritt und Irrthum nachgeht, ihre
Namen und Eigenſchaften nennt, und ſelbſt in die Ab¬
gruͤnde der Nacht ſich verſenkt, um mit dem ihnen
entriſſenen Leben bereichert zu dem Lichte wieder auf¬
zutauchen. Nicht anders thut der Dichter, inſofern er
es wahrhaft iſt; er kann nur aufhoͤren ſittlich zu ſein,
wo er aufhoͤrt Dichter zu ſein.

Fruͤhzeitig empfand Goͤthe die Verwickelungen einer
in ſich ſelbſt uneinigen Welt, in deren Mitte ſein
eignes Leben erwacht war und emporſtieg. Die erſten
Werke ſeines Genius, Werther, Goͤtz, Fauſt, Stella,
enthalten den Drang eines innern Lebens, das mit
den ihm von der aͤußern Welt angebotenen Formen
unruhig kaͤmpft, ſie nicht mehr erfuͤllen noch von ihnen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0434" n="420"/>
hat, die unerkennbar gewordene Verwicklung der ewigen<lb/>
Legitimima&#x0364;t mit deren zeitlicher U&#x017F;urpation, gerade dies<lb/>
i&#x017F;t ja der Stoff, den die Poe&#x017F;ie einer &#x017F;olchen Epoche<lb/>
aufnehmen und verarbeiten muß, wenn &#x017F;ie &#x017F;elber nicht<lb/>
auf das Leben verzichten will. Die Ma&#x017F;&#x017F;e der Zeitge¬<lb/>
no&#x017F;&#x017F;en vermag daher den Dichter wohl zu bewundern,<lb/>
aber nicht voll&#x017F;ta&#x0364;ndig zu ver&#x017F;tehen; &#x017F;ie wird &#x017F;eine Be¬<lb/>
richte wie &#x017F;eine Intentionen tadeln; doch eine &#x017F;pa&#x0364;tere<lb/>
Zeit &#x017F;tellt unfehlbar auch in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht die Gerech¬<lb/>
tigkeit her, und erkennt an, wie in allen Wagni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
des Herzens und Freveln des Gei&#x017F;tes der Ku&#x0364;n&#x017F;tler un¬<lb/>
&#x017F;chuldig und fromm, in aller Sinnlichkeit keu&#x017F;ch und<lb/>
rein bleibt, gleich dem gei&#x017F;tlichen Lehrer, der ohne<lb/>
Scheu jedem Uebertritt und Irrthum nachgeht, ihre<lb/>
Namen und Eigen&#x017F;chaften nennt, und &#x017F;elb&#x017F;t in die Ab¬<lb/>
gru&#x0364;nde der Nacht &#x017F;ich ver&#x017F;enkt, um mit dem ihnen<lb/>
entri&#x017F;&#x017F;enen Leben bereichert zu dem Lichte wieder auf¬<lb/>
zutauchen. Nicht anders thut der Dichter, in&#x017F;ofern er<lb/>
es wahrhaft i&#x017F;t; er kann nur aufho&#x0364;ren &#x017F;ittlich zu &#x017F;ein,<lb/>
wo er aufho&#x0364;rt Dichter zu &#x017F;ein.</p><lb/>
          <p>Fru&#x0364;hzeitig empfand Go&#x0364;the die Verwickelungen einer<lb/>
in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t uneinigen Welt, in deren Mitte &#x017F;ein<lb/>
eignes Leben erwacht war und empor&#x017F;tieg. Die er&#x017F;ten<lb/>
Werke &#x017F;eines Genius, Werther, Go&#x0364;tz, Fau&#x017F;t, Stella,<lb/>
enthalten den Drang eines innern Lebens, das mit<lb/>
den ihm von der a&#x0364;ußern Welt angebotenen Formen<lb/>
unruhig ka&#x0364;mpft, &#x017F;ie nicht mehr erfu&#x0364;llen noch von ihnen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[420/0434] hat, die unerkennbar gewordene Verwicklung der ewigen Legitimimaͤt mit deren zeitlicher Uſurpation, gerade dies iſt ja der Stoff, den die Poeſie einer ſolchen Epoche aufnehmen und verarbeiten muß, wenn ſie ſelber nicht auf das Leben verzichten will. Die Maſſe der Zeitge¬ noſſen vermag daher den Dichter wohl zu bewundern, aber nicht vollſtaͤndig zu verſtehen; ſie wird ſeine Be¬ richte wie ſeine Intentionen tadeln; doch eine ſpaͤtere Zeit ſtellt unfehlbar auch in dieſer Hinſicht die Gerech¬ tigkeit her, und erkennt an, wie in allen Wagniſſen des Herzens und Freveln des Geiſtes der Kuͤnſtler un¬ ſchuldig und fromm, in aller Sinnlichkeit keuſch und rein bleibt, gleich dem geiſtlichen Lehrer, der ohne Scheu jedem Uebertritt und Irrthum nachgeht, ihre Namen und Eigenſchaften nennt, und ſelbſt in die Ab¬ gruͤnde der Nacht ſich verſenkt, um mit dem ihnen entriſſenen Leben bereichert zu dem Lichte wieder auf¬ zutauchen. Nicht anders thut der Dichter, inſofern er es wahrhaft iſt; er kann nur aufhoͤren ſittlich zu ſein, wo er aufhoͤrt Dichter zu ſein. Fruͤhzeitig empfand Goͤthe die Verwickelungen einer in ſich ſelbſt uneinigen Welt, in deren Mitte ſein eignes Leben erwacht war und emporſtieg. Die erſten Werke ſeines Genius, Werther, Goͤtz, Fauſt, Stella, enthalten den Drang eines innern Lebens, das mit den ihm von der aͤußern Welt angebotenen Formen unruhig kaͤmpft, ſie nicht mehr erfuͤllen noch von ihnen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/434
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/434>, abgerufen am 22.11.2024.