damalige Lage Frankreichs war für mich ein weites Feld; ich suchte der Geschichte der Revolution bestmöglichst inne zu werden, beobachtete soviel ich konnte, und erkannte bald (ohne mich für irgend eine der verschiedenen Partheien zu erhitzen), in dem Sturme des Ganzen die fürchterlichste Krise eines seit langer Zeit durch die Folgen aller möglichen Ausschweifungen schwer kranken Staatskörpers. Ich sah einen Haufen, den wilder Enthusiasmus zu großen Bewegungen fortriß; aber nirgends sah ich Freiheit, Gesetzkraft, Ordnung. Ueberall arbeiteten Privatleidenschaften, vorzüglich Habsucht und Herrschsucht, durch und wider einander. Ueberall war das öffentliche Beste ausgestecktes, fast nirgends war es wirkliches Ziel! -- Schon damals glaubt' ich, daß nichts von Bestand sein würde; ich sah ein üppiges, sittenloses Volk; "die Knaben," sagt' ich, "müssen erst wieder aufwachsen unter Schlachten und Blut, die Mädchen unter Trübsal und Thränen -- eher wird's nicht besser!" Und noch jetzt ist mein Wunsch, daß die Krise austoben, aber nicht erstickt werden möge, damit die feindlichen Elemente wahrhaftig sich zerstören, damit die Gluth der Krankheit nicht in's Innere sich verschränke, sondern wirklich erlösche, denn nur unter diesen Bedingungen, däucht mich, kann dauerhaftes Wohl aus der allgemeinen Zerrüttung hervorgehn! -- Ob's die Habsucht der Großen erlauben wird, weiß ich nicht!
Wenn ich nicht hell in diesen Dingen gesehn habe, so lag die Schuld wenigstens nicht an den Dünsten der Unmäßigkeit, denn ein magres Mittagessen für dreißig Sous, ein Endivien¬ salat abends, und Rettige mit Butterbrot morgens -- dies war unsre tägliche Kost. Meine sechshundert Livres waren alle, und wir fingen nun an, von der Einnahme des guten Heisch gemein¬ schaftlich zu leben, immer in der Hoffnung, daß bald eine Gele¬ genheit auch für mich sich zeigen würde, um was zu verdienen;
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damalige Lage Frankreichs war fuͤr mich ein weites Feld; ich ſuchte der Geſchichte der Revolution beſtmoͤglichſt inne zu werden, beobachtete ſoviel ich konnte, und erkannte bald (ohne mich fuͤr irgend eine der verſchiedenen Partheien zu erhitzen), in dem Sturme des Ganzen die fuͤrchterlichſte Kriſe eines ſeit langer Zeit durch die Folgen aller moͤglichen Ausſchweifungen ſchwer kranken Staatskoͤrpers. Ich ſah einen Haufen, den wilder Enthuſiasmus zu großen Bewegungen fortriß; aber nirgends ſah ich Freiheit, Geſetzkraft, Ordnung. Ueberall arbeiteten Privatleidenſchaften, vorzuͤglich Habſucht und Herrſchſucht, durch und wider einander. Ueberall war das oͤffentliche Beſte ausgeſtecktes, faſt nirgends war es wirkliches Ziel! — Schon damals glaubt’ ich, daß nichts von Beſtand ſein wuͤrde; ich ſah ein uͤppiges, ſittenloſes Volk; „die Knaben,“ ſagt’ ich, „muͤſſen erſt wieder aufwachſen unter Schlachten und Blut, die Maͤdchen unter Truͤbſal und Thraͤnen — eher wird’s nicht beſſer!“ Und noch jetzt iſt mein Wunſch, daß die Kriſe austoben, aber nicht erſtickt werden moͤge, damit die feindlichen Elemente wahrhaftig ſich zerſtoͤren, damit die Gluth der Krankheit nicht in’s Innere ſich verſchraͤnke, ſondern wirklich erloͤſche, denn nur unter dieſen Bedingungen, daͤucht mich, kann dauerhaftes Wohl aus der allgemeinen Zerruͤttung hervorgehn! — Ob’s die Habſucht der Großen erlauben wird, weiß ich nicht!
Wenn ich nicht hell in dieſen Dingen geſehn habe, ſo lag die Schuld wenigſtens nicht an den Duͤnſten der Unmaͤßigkeit, denn ein magres Mittageſſen fuͤr dreißig Sous, ein Endivien¬ ſalat abends, und Rettige mit Butterbrot morgens — dies war unſre taͤgliche Koſt. Meine ſechshundert Livres waren alle, und wir fingen nun an, von der Einnahme des guten Heiſch gemein¬ ſchaftlich zu leben, immer in der Hoffnung, daß bald eine Gele¬ genheit auch fuͤr mich ſich zeigen wuͤrde, um was zu verdienen;
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damalige Lage Frankreichs war fuͤr mich ein weites Feld; ich
ſuchte der Geſchichte der Revolution beſtmoͤglichſt inne zu werden,
beobachtete ſoviel ich konnte, und erkannte bald (ohne mich fuͤr
irgend eine der verſchiedenen Partheien zu erhitzen), in dem
Sturme des Ganzen die fuͤrchterlichſte Kriſe eines ſeit langer Zeit
durch die Folgen aller moͤglichen Ausſchweifungen ſchwer kranken
Staatskoͤrpers. Ich ſah einen Haufen, den wilder Enthuſiasmus
zu großen Bewegungen fortriß; aber nirgends ſah ich Freiheit,
Geſetzkraft, Ordnung. Ueberall arbeiteten Privatleidenſchaften,
vorzuͤglich Habſucht und Herrſchſucht, durch und wider einander.
Ueberall war das oͤffentliche Beſte ausgeſtecktes, faſt nirgends
war es wirkliches Ziel! — Schon damals glaubt’ ich, daß nichts
von Beſtand ſein wuͤrde; ich ſah ein uͤppiges, ſittenloſes Volk;
„die Knaben,“ ſagt’ ich, „muͤſſen erſt wieder aufwachſen unter
Schlachten und Blut, die Maͤdchen unter Truͤbſal und Thraͤnen
— eher wird’s nicht beſſer!“ Und noch jetzt iſt mein Wunſch,
daß die Kriſe austoben, aber nicht erſtickt werden moͤge, damit
die feindlichen Elemente wahrhaftig ſich zerſtoͤren, damit die
Gluth der Krankheit nicht in’s Innere ſich verſchraͤnke, ſondern
wirklich erloͤſche, denn nur unter dieſen Bedingungen, daͤucht
mich, kann dauerhaftes Wohl aus der allgemeinen Zerruͤttung
hervorgehn! — Ob’s die Habſucht der Großen erlauben wird,
weiß ich nicht!
Wenn ich nicht hell in dieſen Dingen geſehn habe, ſo lag
die Schuld wenigſtens nicht an den Duͤnſten der Unmaͤßigkeit,
denn ein magres Mittageſſen fuͤr dreißig Sous, ein Endivien¬
ſalat abends, und Rettige mit Butterbrot morgens — dies war
unſre taͤgliche Koſt. Meine ſechshundert Livres waren alle, und
wir fingen nun an, von der Einnahme des guten Heiſch gemein¬
ſchaftlich zu leben, immer in der Hoffnung, daß bald eine Gele¬
genheit auch fuͤr mich ſich zeigen wuͤrde, um was zu verdienen;
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/49>, abgerufen am 21.11.2024.
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