sogleich den Ungrund der Beschuldigungen darthun müßte. Ein merkwürdiges Beispiel dieses Verfahrens sei hier angeführt!
Es ist bekannt, daß Voltaire eine lange Zeit hin¬ durch seine Briefe an die vertrautesten Freunde gern mit der abgekürzten Formel ecr. l'inf. schließen mochte; die¬ ses ecrasezl'infame war die seinem Geiste stets gegen¬ wärtige unablässige Mahnung zur Bekämpfung des Fa¬ natismus und Aberglaubens, der zu Voltaire's Zeit eine noch furchtbarere, blutigere Gestalt hatte, als ihm in späterer Zeit wieder zu erlangen bisher noch möglich war. Im achtzehnten Jahrhundert hat niemand die Sache anders genommen. Was aber geschieht im neun¬ zehnten? Französische Schriftsteller und deutsche sogar -- welche dadurch den Vorwurf der leichtsinnigsten Un¬ gründlichkeit, den sie gegen Voltaire so schnell bereit haben, im vollsten Maße auf sich selbst laden -- erdrei¬ sten sich zu der widerwärtigen Behauptung, daß durch jene Formel die christliche Religion selbst gemeint sei, ja was noch mehr ist, einer jener Schriftsteller wagt mit Zuversicht die abscheuliche Anklage, Voltaire meine durch jene Formel mehr noch, als die christliche Reli¬ gion; den zweideutigen apostrophirten Artikel auf ein nachfolgendes Hauptwort männlichen Geschlechts bezie¬ hend! Und was wird zur Unterstützung dieser schänd¬ lichen Auslegung angeführt? Nichts, gar nichts, als nur die wiederholte, eifrige Behauptung. Der frevel¬
ſogleich den Ungrund der Beſchuldigungen darthun muͤßte. Ein merkwuͤrdiges Beiſpiel dieſes Verfahrens ſei hier angefuͤhrt!
Es iſt bekannt, daß Voltaire eine lange Zeit hin¬ durch ſeine Briefe an die vertrauteſten Freunde gern mit der abgekuͤrzten Formel écr. l'inf. ſchließen mochte; die¬ ſes écrasezl'infâme war die ſeinem Geiſte ſtets gegen¬ waͤrtige unablaͤſſige Mahnung zur Bekaͤmpfung des Fa¬ natismus und Aberglaubens, der zu Voltaire's Zeit eine noch furchtbarere, blutigere Geſtalt hatte, als ihm in ſpaͤterer Zeit wieder zu erlangen bisher noch moͤglich war. Im achtzehnten Jahrhundert hat niemand die Sache anders genommen. Was aber geſchieht im neun¬ zehnten? Franzoͤſiſche Schriftſteller und deutſche ſogar — welche dadurch den Vorwurf der leichtſinnigſten Un¬ gruͤndlichkeit, den ſie gegen Voltaire ſo ſchnell bereit haben, im vollſten Maße auf ſich ſelbſt laden — erdrei¬ ſten ſich zu der widerwaͤrtigen Behauptung, daß durch jene Formel die chriſtliche Religion ſelbſt gemeint ſei, ja was noch mehr iſt, einer jener Schriftſteller wagt mit Zuverſicht die abſcheuliche Anklage, Voltaire meine durch jene Formel mehr noch, als die chriſtliche Reli¬ gion; den zweideutigen apoſtrophirten Artikel auf ein nachfolgendes Hauptwort maͤnnlichen Geſchlechts bezie¬ hend! Und was wird zur Unterſtuͤtzung dieſer ſchaͤnd¬ lichen Auslegung angefuͤhrt? Nichts, gar nichts, als nur die wiederholte, eifrige Behauptung. Der frevel¬
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ſogleich den Ungrund der Beſchuldigungen darthun
muͤßte. Ein merkwuͤrdiges Beiſpiel dieſes Verfahrens
ſei hier angefuͤhrt!
Es iſt bekannt, daß Voltaire eine lange Zeit hin¬
durch ſeine Briefe an die vertrauteſten Freunde gern mit
der abgekuͤrzten Formel écr. l'inf. ſchließen mochte; die¬
ſes écrasez l'infâme war die ſeinem Geiſte ſtets gegen¬
waͤrtige unablaͤſſige Mahnung zur Bekaͤmpfung des Fa¬
natismus und Aberglaubens, der zu Voltaire's Zeit eine
noch furchtbarere, blutigere Geſtalt hatte, als ihm in
ſpaͤterer Zeit wieder zu erlangen bisher noch moͤglich
war. Im achtzehnten Jahrhundert hat niemand die
Sache anders genommen. Was aber geſchieht im neun¬
zehnten? Franzoͤſiſche Schriftſteller und deutſche ſogar —
welche dadurch den Vorwurf der leichtſinnigſten Un¬
gruͤndlichkeit, den ſie gegen Voltaire ſo ſchnell bereit
haben, im vollſten Maße auf ſich ſelbſt laden — erdrei¬
ſten ſich zu der widerwaͤrtigen Behauptung, daß durch
jene Formel die chriſtliche Religion ſelbſt gemeint ſei,
ja was noch mehr iſt, einer jener Schriftſteller wagt
mit Zuverſicht die abſcheuliche Anklage, Voltaire meine
durch jene Formel mehr noch, als die chriſtliche Reli¬
gion; den zweideutigen apoſtrophirten Artikel auf ein
nachfolgendes Hauptwort maͤnnlichen Geſchlechts bezie¬
hend! Und was wird zur Unterſtuͤtzung dieſer ſchaͤnd¬
lichen Auslegung angefuͤhrt? Nichts, gar nichts, als
nur die wiederholte, eifrige Behauptung. Der frevel¬
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/501>, abgerufen am 21.11.2024.
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