spitäler, legte mich ganz auf's Englische, studirte die Geschichte, die politischen Verhältnisse, die Sitten des Landes, und brachte so vier Monate, ich darf sagen, fleißig zu. Ich darf von Eng¬ land nicht anfangen zu reden, sonst würde dieser Brief, welcher so schon zu einer ungeheuren Größe anschwillt, vollends ein Buch. Es ist mit Einem Worte das Land der Freiheit, der gesunden Vernunft, der Männlichkeit, der Großmuth und Behaglichkeit. -- Das Gouvernement verflicht sich überall in die Sitten und in den Karakter der Völker, und ohne zu wissen, daß man über die Gränze gekommen ist, darf man zuweilen nur einen Bauern, ein Dorf ansehn, um sich zu überzeugen, daß man auf dem Gebiet eines andern Landesherrn ist. Nirgends ist dies auffallender, als wie in England. Ordnungssinn, Respekt für's Ganze, Halten auf Regel, Bescheidenheit, Festigkeit, Formgang, Ruhe, Ehr¬ furcht für die Sitte der Vorväter, Nationalstolz, lassen sich beinahe in jedem Einzelnen vernehmen. Es giebt in England Mißbräuche, so gut wie anderswo, und wer sich Mühe geben will, der kann davon ein wahres und häßliches Gemälde zusam¬ menbringen. Aber das versteckte wenige Häßliche muß aufgesucht werden, das vorwiegende, überall verbreitete Schön' und Gute bietet sich entgegen! -- Sie können denken, liebe Freundin, daß, von den Vorzügen Englands innig durchdrungen sein und der Wunsch dort sich anzubauen, für einen jungen Mann in meiner Lage nicht lange zwei gesonderte Dinge sein konnten; nur wie dieser Wunsch auszuführen sei? Das war die große Frage! Ich hatte wieder angefangen unter guten Bekannten zu prak¬ tiziren, und hatte sogar einige glückliche Kuren gemacht, die aber geheim gehalten wurden, um ältere, umsonst sich bemüht habende Hausärzte nicht zu beleidigen. Aber theils begriff ich, daß ein großes Kapital dazu erfordert würd', um es auszu¬ halten bis zum entfernten Zeitpunkt, wo nach und nach er¬
ſpitaͤler, legte mich ganz auf's Engliſche, ſtudirte die Geſchichte, die politiſchen Verhaͤltniſſe, die Sitten des Landes, und brachte ſo vier Monate, ich darf ſagen, fleißig zu. Ich darf von Eng¬ land nicht anfangen zu reden, ſonſt wuͤrde dieſer Brief, welcher ſo ſchon zu einer ungeheuren Groͤße anſchwillt, vollends ein Buch. Es iſt mit Einem Worte das Land der Freiheit, der geſunden Vernunft, der Maͤnnlichkeit, der Großmuth und Behaglichkeit. — Das Gouvernement verflicht ſich uͤberall in die Sitten und in den Karakter der Voͤlker, und ohne zu wiſſen, daß man uͤber die Graͤnze gekommen iſt, darf man zuweilen nur einen Bauern, ein Dorf anſehn, um ſich zu uͤberzeugen, daß man auf dem Gebiet eines andern Landesherrn iſt. Nirgends iſt dies auffallender, als wie in England. Ordnungsſinn, Reſpekt fuͤr's Ganze, Halten auf Regel, Beſcheidenheit, Feſtigkeit, Formgang, Ruhe, Ehr¬ furcht fuͤr die Sitte der Vorvaͤter, Nationalſtolz, laſſen ſich beinahe in jedem Einzelnen vernehmen. Es giebt in England Mißbraͤuche, ſo gut wie anderswo, und wer ſich Muͤhe geben will, der kann davon ein wahres und haͤßliches Gemaͤlde zuſam¬ menbringen. Aber das verſteckte wenige Haͤßliche muß aufgeſucht werden, das vorwiegende, uͤberall verbreitete Schoͤn' und Gute bietet ſich entgegen! — Sie koͤnnen denken, liebe Freundin, daß, von den Vorzuͤgen Englands innig durchdrungen ſein und der Wunſch dort ſich anzubauen, fuͤr einen jungen Mann in meiner Lage nicht lange zwei geſonderte Dinge ſein konnten; nur wie dieſer Wunſch auszufuͤhren ſei? Das war die große Frage! Ich hatte wieder angefangen unter guten Bekannten zu prak¬ tiziren, und hatte ſogar einige gluͤckliche Kuren gemacht, die aber geheim gehalten wurden, um aͤltere, umſonſt ſich bemuͤht habende Hausaͤrzte nicht zu beleidigen. Aber theils begriff ich, daß ein großes Kapital dazu erfordert wuͤrd', um es auszu¬ halten bis zum entfernten Zeitpunkt, wo nach und nach er¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0068"n="54"/>ſpitaͤler, legte mich ganz auf's Engliſche, ſtudirte die Geſchichte,<lb/>
die politiſchen Verhaͤltniſſe, die Sitten des Landes, und brachte<lb/>ſo vier Monate, ich darf ſagen, fleißig zu. Ich darf von Eng¬<lb/>
land nicht anfangen zu reden, ſonſt wuͤrde dieſer Brief, welcher<lb/>ſo ſchon zu einer ungeheuren Groͤße anſchwillt, vollends ein Buch.<lb/>
Es iſt mit Einem Worte das Land der Freiheit, der geſunden<lb/>
Vernunft, der Maͤnnlichkeit, der Großmuth und Behaglichkeit.<lb/>— Das Gouvernement verflicht ſich uͤberall in die Sitten und<lb/>
in den Karakter der Voͤlker, und ohne zu wiſſen, daß man uͤber<lb/>
die Graͤnze gekommen iſt, darf man zuweilen nur einen Bauern,<lb/>
ein Dorf anſehn, um ſich zu uͤberzeugen, daß man auf dem Gebiet<lb/>
eines andern Landesherrn iſt. Nirgends iſt dies auffallender,<lb/>
als wie in England. Ordnungsſinn, Reſpekt fuͤr's Ganze, Halten<lb/>
auf Regel, Beſcheidenheit, Feſtigkeit, Formgang, Ruhe, Ehr¬<lb/>
furcht fuͤr die Sitte der Vorvaͤter, Nationalſtolz, laſſen ſich<lb/>
beinahe in jedem Einzelnen vernehmen. Es giebt in England<lb/>
Mißbraͤuche, ſo gut wie anderswo, und wer ſich Muͤhe geben<lb/>
will, der kann davon ein wahres und haͤßliches Gemaͤlde zuſam¬<lb/>
menbringen. Aber das verſteckte wenige Haͤßliche muß aufgeſucht<lb/>
werden, das vorwiegende, uͤberall verbreitete Schoͤn' und Gute<lb/>
bietet ſich entgegen! — Sie koͤnnen denken, liebe Freundin, daß,<lb/>
von den Vorzuͤgen Englands innig durchdrungen ſein und der<lb/>
Wunſch dort ſich anzubauen, fuͤr einen jungen Mann in meiner<lb/>
Lage nicht lange zwei geſonderte Dinge ſein konnten; nur <hirendition="#g">wie</hi><lb/>
dieſer Wunſch auszufuͤhren ſei? <hirendition="#g">Das</hi> war die große Frage!<lb/>
Ich hatte wieder angefangen unter guten Bekannten zu prak¬<lb/>
tiziren, und hatte ſogar einige gluͤckliche Kuren gemacht, die<lb/>
aber geheim gehalten wurden, um aͤltere, umſonſt ſich bemuͤht<lb/>
habende Hausaͤrzte nicht zu beleidigen. Aber theils begriff ich,<lb/>
daß ein großes Kapital dazu erfordert wuͤrd', um es auszu¬<lb/>
halten bis zum entfernten Zeitpunkt, wo nach und nach er¬<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[54/0068]
ſpitaͤler, legte mich ganz auf's Engliſche, ſtudirte die Geſchichte,
die politiſchen Verhaͤltniſſe, die Sitten des Landes, und brachte
ſo vier Monate, ich darf ſagen, fleißig zu. Ich darf von Eng¬
land nicht anfangen zu reden, ſonſt wuͤrde dieſer Brief, welcher
ſo ſchon zu einer ungeheuren Groͤße anſchwillt, vollends ein Buch.
Es iſt mit Einem Worte das Land der Freiheit, der geſunden
Vernunft, der Maͤnnlichkeit, der Großmuth und Behaglichkeit.
— Das Gouvernement verflicht ſich uͤberall in die Sitten und
in den Karakter der Voͤlker, und ohne zu wiſſen, daß man uͤber
die Graͤnze gekommen iſt, darf man zuweilen nur einen Bauern,
ein Dorf anſehn, um ſich zu uͤberzeugen, daß man auf dem Gebiet
eines andern Landesherrn iſt. Nirgends iſt dies auffallender,
als wie in England. Ordnungsſinn, Reſpekt fuͤr's Ganze, Halten
auf Regel, Beſcheidenheit, Feſtigkeit, Formgang, Ruhe, Ehr¬
furcht fuͤr die Sitte der Vorvaͤter, Nationalſtolz, laſſen ſich
beinahe in jedem Einzelnen vernehmen. Es giebt in England
Mißbraͤuche, ſo gut wie anderswo, und wer ſich Muͤhe geben
will, der kann davon ein wahres und haͤßliches Gemaͤlde zuſam¬
menbringen. Aber das verſteckte wenige Haͤßliche muß aufgeſucht
werden, das vorwiegende, uͤberall verbreitete Schoͤn' und Gute
bietet ſich entgegen! — Sie koͤnnen denken, liebe Freundin, daß,
von den Vorzuͤgen Englands innig durchdrungen ſein und der
Wunſch dort ſich anzubauen, fuͤr einen jungen Mann in meiner
Lage nicht lange zwei geſonderte Dinge ſein konnten; nur wie
dieſer Wunſch auszufuͤhren ſei? Das war die große Frage!
Ich hatte wieder angefangen unter guten Bekannten zu prak¬
tiziren, und hatte ſogar einige gluͤckliche Kuren gemacht, die
aber geheim gehalten wurden, um aͤltere, umſonſt ſich bemuͤht
habende Hausaͤrzte nicht zu beleidigen. Aber theils begriff ich,
daß ein großes Kapital dazu erfordert wuͤrd', um es auszu¬
halten bis zum entfernten Zeitpunkt, wo nach und nach er¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/68>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.