Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

bald einheimisch; er fand nach allen Seiten die günstig¬
sten Verhältnisse, und schien außer den wissenschaftlichen
Gegenständen kein andres Interesse zu haben, als in
den Zerstreuungen des Tages mitzuleben. Er selbst
aber war unaufhörlich mit seinem Vorhaben beschäftigt,
und harrte voll Ungeduld auf Nachrichten. Sie sagten
blos, Lafayette sei krank, und werde immer kränker;
dies war ein willkommenes Zeichen, daß Bollmann's
Rath wirkte, allein der entscheidende Wink, daß der
zum Handeln günstige Augenblick erschienen sei, blieb aus.
Der letzte Theil des Sommers verstrich, ohne daß
Bollmann sich gefördert sah. Nur der Herbst war noch
übrig; blieb auch diese Jahreszeit unbenutzt, so mußte
das Unternehmen, das durchaus nicht im Winter zu
vollbringen war, bis zum nächsten Frühjahr aufgeschoben
werden. In dieser Verlegenheit reiste Bollmann selbst
wieder nach Olmütz. Hier empfing er am 10. Oktober
den ersten und einzigen Brief von Lafayette, der ihn
dringend bat, ohne Verzug zu handeln. Der Gefangene
hatte sich mehr und mehr erkranken lassen, und weil
durchaus kein andres Mittel helfen wollte, war der
Arzt endlich dahin gekommen, den Genuß der freien
Luft als die einzig noch mögliche Rettung vorzuschlagen.
Wollte man Lafayette'n nicht als Opfer des Grams
und der Kerkerluft sterben lassen, so mußte man ihm
Spazierfahrten erlauben. Aber nur erst gegen Ende
des Septembers war die Erlaubniß ertheilt, und erst

bald einheimiſch; er fand nach allen Seiten die guͤnſtig¬
ſten Verhaͤltniſſe, und ſchien außer den wiſſenſchaftlichen
Gegenſtaͤnden kein andres Intereſſe zu haben, als in
den Zerſtreuungen des Tages mitzuleben. Er ſelbſt
aber war unaufhoͤrlich mit ſeinem Vorhaben beſchaͤftigt,
und harrte voll Ungeduld auf Nachrichten. Sie ſagten
blos, Lafayette ſei krank, und werde immer kraͤnker;
dies war ein willkommenes Zeichen, daß Bollmann's
Rath wirkte, allein der entſcheidende Wink, daß der
zum Handeln guͤnſtige Augenblick erſchienen ſei, blieb aus.
Der letzte Theil des Sommers verſtrich, ohne daß
Bollmann ſich gefoͤrdert ſah. Nur der Herbſt war noch
uͤbrig; blieb auch dieſe Jahreszeit unbenutzt, ſo mußte
das Unternehmen, das durchaus nicht im Winter zu
vollbringen war, bis zum naͤchſten Fruͤhjahr aufgeſchoben
werden. In dieſer Verlegenheit reiſte Bollmann ſelbſt
wieder nach Olmuͤtz. Hier empfing er am 10. Oktober
den erſten und einzigen Brief von Lafayette, der ihn
dringend bat, ohne Verzug zu handeln. Der Gefangene
hatte ſich mehr und mehr erkranken laſſen, und weil
durchaus kein andres Mittel helfen wollte, war der
Arzt endlich dahin gekommen, den Genuß der freien
Luft als die einzig noch moͤgliche Rettung vorzuſchlagen.
Wollte man Lafayette'n nicht als Opfer des Grams
und der Kerkerluft ſterben laſſen, ſo mußte man ihm
Spazierfahrten erlauben. Aber nur erſt gegen Ende
des Septembers war die Erlaubniß ertheilt, und erſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0096" n="82"/>
bald einheimi&#x017F;ch; er fand nach allen Seiten die gu&#x0364;n&#x017F;tig¬<lb/>
&#x017F;ten Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, und &#x017F;chien außer den wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen<lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden kein andres Intere&#x017F;&#x017F;e zu haben, als in<lb/>
den Zer&#x017F;treuungen des Tages mitzuleben. Er &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
aber war unaufho&#x0364;rlich mit &#x017F;einem Vorhaben be&#x017F;cha&#x0364;ftigt,<lb/>
und harrte voll Ungeduld auf Nachrichten. Sie &#x017F;agten<lb/>
blos, Lafayette &#x017F;ei krank, und werde immer kra&#x0364;nker;<lb/>
dies war ein willkommenes Zeichen, daß Bollmann's<lb/>
Rath wirkte, allein der ent&#x017F;cheidende Wink, daß der<lb/>
zum Handeln gu&#x0364;n&#x017F;tige Augenblick er&#x017F;chienen &#x017F;ei, blieb aus.<lb/>
Der letzte Theil des Sommers ver&#x017F;trich, ohne daß<lb/>
Bollmann &#x017F;ich gefo&#x0364;rdert &#x017F;ah. Nur der Herb&#x017F;t war noch<lb/>
u&#x0364;brig; blieb auch die&#x017F;e Jahreszeit unbenutzt, &#x017F;o mußte<lb/>
das Unternehmen, das durchaus nicht im Winter zu<lb/>
vollbringen war, bis zum na&#x0364;ch&#x017F;ten Fru&#x0364;hjahr aufge&#x017F;choben<lb/>
werden. In die&#x017F;er Verlegenheit rei&#x017F;te Bollmann &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
wieder nach Olmu&#x0364;tz. Hier empfing er am <hi rendition="#b">10</hi>. Oktober<lb/>
den er&#x017F;ten und einzigen Brief von Lafayette, der ihn<lb/>
dringend bat, ohne Verzug zu handeln. Der Gefangene<lb/>
hatte &#x017F;ich mehr und mehr erkranken la&#x017F;&#x017F;en, und weil<lb/>
durchaus kein andres Mittel helfen wollte, war der<lb/>
Arzt endlich dahin gekommen, den Genuß der freien<lb/>
Luft als die einzig noch mo&#x0364;gliche Rettung vorzu&#x017F;chlagen.<lb/>
Wollte man Lafayette'n nicht als Opfer des Grams<lb/>
und der Kerkerluft &#x017F;terben la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o mußte man ihm<lb/>
Spazierfahrten erlauben. Aber nur er&#x017F;t gegen Ende<lb/>
des Septembers war die Erlaubniß ertheilt, und er&#x017F;t<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0096] bald einheimiſch; er fand nach allen Seiten die guͤnſtig¬ ſten Verhaͤltniſſe, und ſchien außer den wiſſenſchaftlichen Gegenſtaͤnden kein andres Intereſſe zu haben, als in den Zerſtreuungen des Tages mitzuleben. Er ſelbſt aber war unaufhoͤrlich mit ſeinem Vorhaben beſchaͤftigt, und harrte voll Ungeduld auf Nachrichten. Sie ſagten blos, Lafayette ſei krank, und werde immer kraͤnker; dies war ein willkommenes Zeichen, daß Bollmann's Rath wirkte, allein der entſcheidende Wink, daß der zum Handeln guͤnſtige Augenblick erſchienen ſei, blieb aus. Der letzte Theil des Sommers verſtrich, ohne daß Bollmann ſich gefoͤrdert ſah. Nur der Herbſt war noch uͤbrig; blieb auch dieſe Jahreszeit unbenutzt, ſo mußte das Unternehmen, das durchaus nicht im Winter zu vollbringen war, bis zum naͤchſten Fruͤhjahr aufgeſchoben werden. In dieſer Verlegenheit reiſte Bollmann ſelbſt wieder nach Olmuͤtz. Hier empfing er am 10. Oktober den erſten und einzigen Brief von Lafayette, der ihn dringend bat, ohne Verzug zu handeln. Der Gefangene hatte ſich mehr und mehr erkranken laſſen, und weil durchaus kein andres Mittel helfen wollte, war der Arzt endlich dahin gekommen, den Genuß der freien Luft als die einzig noch moͤgliche Rettung vorzuſchlagen. Wollte man Lafayette'n nicht als Opfer des Grams und der Kerkerluft ſterben laſſen, ſo mußte man ihm Spazierfahrten erlauben. Aber nur erſt gegen Ende des Septembers war die Erlaubniß ertheilt, und erſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/96
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/96>, abgerufen am 21.11.2024.