Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

dann oft unglücklich genug bedingend zurückwirken, hier
glücklicherweise keine Rede ist, so darf der getroffene
Sinn frei und froh dem neuen Lichte folgen. Daß
jede neue Regung in dem Dichter einen Fortschritt
bezeichnet, immer nur einen höheren Gegenstand auch
mit erhöhtem Gemüth erfaßt, dies thut ihn dar als
der Liebe treu und der Wahrheit, in ihrer menschlich
möglichen und gebotenen Entwickelung, welches eine
höhere Treue ist, als die gewöhnlich dafür geltende
äußere Beharrlichkeit bei einem zufällig ersten Begeg¬
niß. Das Verhältniß zu Lilli zeigt sich aber nicht nur
reicher, tiefer und schöner, als alle früheren, sondern
in der Reihe der Jugendneigungen auch als das höchste
und letzte; ihm folgt kein ähnliches; was weiterhin von
Neigungen und Leidenschaften "unseres Freundes" sicht¬
bar wird, und größtentheils in Dichtungsgestalt für alle
Zeiten zu verehrender, sinnender, lehrreicher Betrach¬
tung dasteht, gehört einer neuen Folge an, worin andre
Richtungen und Bezüge hervortreten, nicht geringeren
Werthes, als die bisher dargelegten, aber von einem
ganz verschiedenen Karakter, und daher mit jenem dar¬
gebotenen höchsten Lebensglücke, wofür Goethe selbst
es erklärt hat, nicht zu vergleichen noch zu messen.

Der Verlauf dieser Liebesgeschichte, von dem ersten
Sehen und Kennenlernen bis zur Verlobung, wohin
diesmal die Sache wirklich gelangt, ist ein ununter¬
brochenes Gedicht, das den reitzendsten und bedeutend¬

dann oft ungluͤcklich genug bedingend zuruͤckwirken, hier
gluͤcklicherweiſe keine Rede iſt, ſo darf der getroffene
Sinn frei und froh dem neuen Lichte folgen. Daß
jede neue Regung in dem Dichter einen Fortſchritt
bezeichnet, immer nur einen hoͤheren Gegenſtand auch
mit erhoͤhtem Gemuͤth erfaßt, dies thut ihn dar als
der Liebe treu und der Wahrheit, in ihrer menſchlich
moͤglichen und gebotenen Entwickelung, welches eine
hoͤhere Treue iſt, als die gewoͤhnlich dafuͤr geltende
aͤußere Beharrlichkeit bei einem zufaͤllig erſten Begeg¬
niß. Das Verhaͤltniß zu Lilli zeigt ſich aber nicht nur
reicher, tiefer und ſchoͤner, als alle fruͤheren, ſondern
in der Reihe der Jugendneigungen auch als das hoͤchſte
und letzte; ihm folgt kein aͤhnliches; was weiterhin von
Neigungen und Leidenſchaften „unſeres Freundes“ ſicht¬
bar wird, und groͤßtentheils in Dichtungsgeſtalt fuͤr alle
Zeiten zu verehrender, ſinnender, lehrreicher Betrach¬
tung daſteht, gehoͤrt einer neuen Folge an, worin andre
Richtungen und Bezuͤge hervortreten, nicht geringeren
Werthes, als die bisher dargelegten, aber von einem
ganz verſchiedenen Karakter, und daher mit jenem dar¬
gebotenen hoͤchſten Lebensgluͤcke, wofuͤr Goethe ſelbſt
es erklaͤrt hat, nicht zu vergleichen noch zu meſſen.

Der Verlauf dieſer Liebesgeſchichte, von dem erſten
Sehen und Kennenlernen bis zur Verlobung, wohin
diesmal die Sache wirklich gelangt, iſt ein ununter¬
brochenes Gedicht, das den reitzendſten und bedeutend¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0330" n="316"/>
dann oft unglu&#x0364;cklich genug bedingend zuru&#x0364;ckwirken, hier<lb/>
glu&#x0364;cklicherwei&#x017F;e keine Rede i&#x017F;t, &#x017F;o darf der getroffene<lb/>
Sinn frei und froh dem neuen Lichte folgen. Daß<lb/>
jede neue Regung in dem Dichter einen Fort&#x017F;chritt<lb/>
bezeichnet, immer nur einen ho&#x0364;heren Gegen&#x017F;tand auch<lb/>
mit erho&#x0364;htem Gemu&#x0364;th erfaßt, dies thut ihn dar als<lb/>
der Liebe treu und der Wahrheit, in ihrer men&#x017F;chlich<lb/>
mo&#x0364;glichen und gebotenen Entwickelung, welches eine<lb/>
ho&#x0364;here Treue i&#x017F;t, als die gewo&#x0364;hnlich dafu&#x0364;r geltende<lb/>
a&#x0364;ußere Beharrlichkeit bei einem zufa&#x0364;llig er&#x017F;ten Begeg¬<lb/>
niß. Das Verha&#x0364;ltniß zu Lilli zeigt &#x017F;ich aber nicht nur<lb/>
reicher, tiefer und &#x017F;cho&#x0364;ner, als alle fru&#x0364;heren, &#x017F;ondern<lb/>
in der Reihe der Jugendneigungen auch als das ho&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
und letzte; ihm folgt kein a&#x0364;hnliches; was weiterhin von<lb/>
Neigungen und Leiden&#x017F;chaften &#x201E;un&#x017F;eres Freundes&#x201C; &#x017F;icht¬<lb/>
bar wird, und gro&#x0364;ßtentheils in Dichtungsge&#x017F;talt fu&#x0364;r alle<lb/>
Zeiten zu verehrender, &#x017F;innender, lehrreicher Betrach¬<lb/>
tung da&#x017F;teht, geho&#x0364;rt einer neuen Folge an, worin andre<lb/>
Richtungen und Bezu&#x0364;ge hervortreten, nicht geringeren<lb/>
Werthes, als die bisher dargelegten, aber von einem<lb/>
ganz ver&#x017F;chiedenen Karakter, und daher mit jenem dar¬<lb/>
gebotenen ho&#x0364;ch&#x017F;ten Lebensglu&#x0364;cke, wofu&#x0364;r Goethe &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
es erkla&#x0364;rt hat, nicht zu vergleichen noch zu me&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Der Verlauf die&#x017F;er Liebesge&#x017F;chichte, von dem er&#x017F;ten<lb/>
Sehen und Kennenlernen bis zur Verlobung, wohin<lb/>
diesmal die Sache wirklich gelangt, i&#x017F;t ein ununter¬<lb/>
brochenes Gedicht, das den reitzend&#x017F;ten und bedeutend¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0330] dann oft ungluͤcklich genug bedingend zuruͤckwirken, hier gluͤcklicherweiſe keine Rede iſt, ſo darf der getroffene Sinn frei und froh dem neuen Lichte folgen. Daß jede neue Regung in dem Dichter einen Fortſchritt bezeichnet, immer nur einen hoͤheren Gegenſtand auch mit erhoͤhtem Gemuͤth erfaßt, dies thut ihn dar als der Liebe treu und der Wahrheit, in ihrer menſchlich moͤglichen und gebotenen Entwickelung, welches eine hoͤhere Treue iſt, als die gewoͤhnlich dafuͤr geltende aͤußere Beharrlichkeit bei einem zufaͤllig erſten Begeg¬ niß. Das Verhaͤltniß zu Lilli zeigt ſich aber nicht nur reicher, tiefer und ſchoͤner, als alle fruͤheren, ſondern in der Reihe der Jugendneigungen auch als das hoͤchſte und letzte; ihm folgt kein aͤhnliches; was weiterhin von Neigungen und Leidenſchaften „unſeres Freundes“ ſicht¬ bar wird, und groͤßtentheils in Dichtungsgeſtalt fuͤr alle Zeiten zu verehrender, ſinnender, lehrreicher Betrach¬ tung daſteht, gehoͤrt einer neuen Folge an, worin andre Richtungen und Bezuͤge hervortreten, nicht geringeren Werthes, als die bisher dargelegten, aber von einem ganz verſchiedenen Karakter, und daher mit jenem dar¬ gebotenen hoͤchſten Lebensgluͤcke, wofuͤr Goethe ſelbſt es erklaͤrt hat, nicht zu vergleichen noch zu meſſen. Der Verlauf dieſer Liebesgeſchichte, von dem erſten Sehen und Kennenlernen bis zur Verlobung, wohin diesmal die Sache wirklich gelangt, iſt ein ununter¬ brochenes Gedicht, das den reitzendſten und bedeutend¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/330
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/330>, abgerufen am 26.11.2024.