Die Schweizerreise ist eine der glücklichen Schilde¬ rungen, wie sie Goethe so einzig gelingen, in welchen Naturanschauung, äußerliche Begebenheiten und Zu¬ stände, und die tiefsten Geistes- und Gemüthsstim¬ mungen zu dem lebendigsten Gesammteindruck sich ver¬ binden. Die Neigung zu Lilli begleitet den Wandrer in diese Berge, haucht ihm süße Lieder ein, und reißt ihn zuletzt, da er schon im Begriff steht nach Italien hinabzusteigen, gewaltsam in das heimische Mainthal zurück. Zwar weiß er schon, und hat mit dem Ver¬ stande schon zugegeben, daß die Geliebte nicht mehr ihm angehören soll, allein dem Herzen und den Augen gehört sie dennoch an, und der beglückende Umgang dauert fort, wenn auch unterbrochen und gestört. Der Kampf erhöht nur die Leidenschaft, sie ringt mit Mög¬ lichkeiten und Entschlüssen, sie strömt poetisches Leben aus, mit welchem sie auch das Störende sich unter¬ ordnet und aneignet; doch zwischen allen diesen wächst unaufhörlich die Trennung, bestärkt sich nur immer die Entsagung.
Wie schon mehrmals nimmt auch jetzt den Bedräng¬ ten sein produktives Talent in Obhut; ein heitrer und fruchtbarer Zeichner Kraus regt die Kunstliebe nach dieser Seite zu praktischen Uebungen an und rückt durch seine Bilder nebenher die Weimarischen Verhält¬ nisse nah und traulich vor den Sinn. Jedoch kann diese Lockung, da kein ächter Beruf ihr gesellt ist, nicht
Die Schweizerreiſe iſt eine der gluͤcklichen Schilde¬ rungen, wie ſie Goethe ſo einzig gelingen, in welchen Naturanſchauung, aͤußerliche Begebenheiten und Zu¬ ſtaͤnde, und die tiefſten Geiſtes- und Gemuͤthsſtim¬ mungen zu dem lebendigſten Geſammteindruck ſich ver¬ binden. Die Neigung zu Lilli begleitet den Wandrer in dieſe Berge, haucht ihm ſuͤße Lieder ein, und reißt ihn zuletzt, da er ſchon im Begriff ſteht nach Italien hinabzuſteigen, gewaltſam in das heimiſche Mainthal zuruͤck. Zwar weiß er ſchon, und hat mit dem Ver¬ ſtande ſchon zugegeben, daß die Geliebte nicht mehr ihm angehoͤren ſoll, allein dem Herzen und den Augen gehoͤrt ſie dennoch an, und der begluͤckende Umgang dauert fort, wenn auch unterbrochen und geſtoͤrt. Der Kampf erhoͤht nur die Leidenſchaft, ſie ringt mit Moͤg¬ lichkeiten und Entſchluͤſſen, ſie ſtroͤmt poetiſches Leben aus, mit welchem ſie auch das Stoͤrende ſich unter¬ ordnet und aneignet; doch zwiſchen allen dieſen waͤchſt unaufhoͤrlich die Trennung, beſtaͤrkt ſich nur immer die Entſagung.
Wie ſchon mehrmals nimmt auch jetzt den Bedraͤng¬ ten ſein produktives Talent in Obhut; ein heitrer und fruchtbarer Zeichner Kraus regt die Kunſtliebe nach dieſer Seite zu praktiſchen Uebungen an und ruͤckt durch ſeine Bilder nebenher die Weimariſchen Verhaͤlt¬ niſſe nah und traulich vor den Sinn. Jedoch kann dieſe Lockung, da kein aͤchter Beruf ihr geſellt iſt, nicht
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Die Schweizerreiſe iſt eine der gluͤcklichen Schilde¬
rungen, wie ſie Goethe ſo einzig gelingen, in welchen
Naturanſchauung, aͤußerliche Begebenheiten und Zu¬
ſtaͤnde, und die tiefſten Geiſtes- und Gemuͤthsſtim¬
mungen zu dem lebendigſten Geſammteindruck ſich ver¬
binden. Die Neigung zu Lilli begleitet den Wandrer
in dieſe Berge, haucht ihm ſuͤße Lieder ein, und reißt
ihn zuletzt, da er ſchon im Begriff ſteht nach Italien
hinabzuſteigen, gewaltſam in das heimiſche Mainthal
zuruͤck. Zwar weiß er ſchon, und hat mit dem Ver¬
ſtande ſchon zugegeben, daß die Geliebte nicht mehr
ihm angehoͤren ſoll, allein dem Herzen und den Augen
gehoͤrt ſie dennoch an, und der begluͤckende Umgang
dauert fort, wenn auch unterbrochen und geſtoͤrt. Der
Kampf erhoͤht nur die Leidenſchaft, ſie ringt mit Moͤg¬
lichkeiten und Entſchluͤſſen, ſie ſtroͤmt poetiſches Leben
aus, mit welchem ſie auch das Stoͤrende ſich unter¬
ordnet und aneignet; doch zwiſchen allen dieſen waͤchſt
unaufhoͤrlich die Trennung, beſtaͤrkt ſich nur immer die
Entſagung.
Wie ſchon mehrmals nimmt auch jetzt den Bedraͤng¬
ten ſein produktives Talent in Obhut; ein heitrer und
fruchtbarer Zeichner Kraus regt die Kunſtliebe nach
dieſer Seite zu praktiſchen Uebungen an und ruͤckt
durch ſeine Bilder nebenher die Weimariſchen Verhaͤlt¬
niſſe nah und traulich vor den Sinn. Jedoch kann
dieſe Lockung, da kein aͤchter Beruf ihr geſellt iſt, nicht
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/342>, abgerufen am 25.11.2024.
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