nur immer aus Gründen fort zu sprechen, wo diesen im voraus bösliche Willkür entgegentritt. Desto lobens¬ werther ist hier Immermann's Verfahren. Er sagt zwar selbst im Verfolge seines Briefes, er verlasse den Stand¬ punkt der Unpartheilichkeit, und schlage sich ganz auf die Seite Goethe's: aber welcher Richter thut dies nicht am Ende durch seinen Urtheilsspruch? Die Unter¬ suchung aber führt er völlig partheilos; er verläugnet sich sein vorausgeahndetes Ergebniß so lange, bis er es auch auf dem Wege der Erörterung wirklich gefunden hat. Er theilt sich seine Sache ordentlich ein, und nimmt sie Punkt für Punkt vor; kein Scheingrund ist ihm zu gering, um ihn ungehört zu verwerfen, keine Ausflucht zu abschweifend, um sie unverfolgt zu lassen. Er ist dabei weder pedantisch ausgesponnen, noch vornehm breit, sondern gedrängt und fest beisammen, und obwohl in abkürzender Zeitersparung, giebt er die Untersuchung doch vollständig und mit allen Belegen. Er hat eben so klare als tiefe Anschauungen von dem Wesen der Poesie und ihren Verhältnissen. Eine edle, treue Gesinnung -- und nicht blos in dichterischen Dingen -- reife Einsicht und sicheres Bewußtsein, mit allen Waffen des Talents ausgerüstet, sind in diesen Blättern unverkennbar. Die Quellen, aus denen ein dichterisches Kunstwerk entsteht, die Art und Weise, wie es sich hervorbildet, die Be¬ ziehungen, in welche es tritt -- diese zarten, wichtigen, oft berührten, immer wieder abhanden kommenden Ge¬
nur immer aus Gruͤnden fort zu ſprechen, wo dieſen im voraus boͤsliche Willkuͤr entgegentritt. Deſto lobens¬ werther iſt hier Immermann's Verfahren. Er ſagt zwar ſelbſt im Verfolge ſeines Briefes, er verlaſſe den Stand¬ punkt der Unpartheilichkeit, und ſchlage ſich ganz auf die Seite Goethe's: aber welcher Richter thut dies nicht am Ende durch ſeinen Urtheilsſpruch? Die Unter¬ ſuchung aber fuͤhrt er voͤllig partheilos; er verlaͤugnet ſich ſein vorausgeahndetes Ergebniß ſo lange, bis er es auch auf dem Wege der Eroͤrterung wirklich gefunden hat. Er theilt ſich ſeine Sache ordentlich ein, und nimmt ſie Punkt fuͤr Punkt vor; kein Scheingrund iſt ihm zu gering, um ihn ungehoͤrt zu verwerfen, keine Ausflucht zu abſchweifend, um ſie unverfolgt zu laſſen. Er iſt dabei weder pedantiſch ausgeſponnen, noch vornehm breit, ſondern gedraͤngt und feſt beiſammen, und obwohl in abkuͤrzender Zeiterſparung, giebt er die Unterſuchung doch vollſtaͤndig und mit allen Belegen. Er hat eben ſo klare als tiefe Anſchauungen von dem Weſen der Poeſie und ihren Verhaͤltniſſen. Eine edle, treue Geſinnung — und nicht blos in dichteriſchen Dingen — reife Einſicht und ſicheres Bewußtſein, mit allen Waffen des Talents ausgeruͤſtet, ſind in dieſen Blaͤttern unverkennbar. Die Quellen, aus denen ein dichteriſches Kunſtwerk entſteht, die Art und Weiſe, wie es ſich hervorbildet, die Be¬ ziehungen, in welche es tritt — dieſe zarten, wichtigen, oft beruͤhrten, immer wieder abhanden kommenden Ge¬
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nur immer aus Gruͤnden fort zu ſprechen, wo dieſen
im voraus boͤsliche Willkuͤr entgegentritt. Deſto lobens¬
werther iſt hier Immermann's Verfahren. Er ſagt zwar
ſelbſt im Verfolge ſeines Briefes, er verlaſſe den Stand¬
punkt der Unpartheilichkeit, und ſchlage ſich ganz auf
die Seite Goethe's: aber welcher Richter thut dies nicht
am Ende durch ſeinen Urtheilsſpruch? Die Unter¬
ſuchung aber fuͤhrt er voͤllig partheilos; er verlaͤugnet
ſich ſein vorausgeahndetes Ergebniß ſo lange, bis er es
auch auf dem Wege der Eroͤrterung wirklich gefunden
hat. Er theilt ſich ſeine Sache ordentlich ein, und nimmt
ſie Punkt fuͤr Punkt vor; kein Scheingrund iſt ihm zu
gering, um ihn ungehoͤrt zu verwerfen, keine Ausflucht
zu abſchweifend, um ſie unverfolgt zu laſſen. Er iſt
dabei weder pedantiſch ausgeſponnen, noch vornehm breit,
ſondern gedraͤngt und feſt beiſammen, und obwohl in
abkuͤrzender Zeiterſparung, giebt er die Unterſuchung doch
vollſtaͤndig und mit allen Belegen. Er hat eben ſo klare
als tiefe Anſchauungen von dem Weſen der Poeſie und
ihren Verhaͤltniſſen. Eine edle, treue Geſinnung —
und nicht blos in dichteriſchen Dingen — reife Einſicht
und ſicheres Bewußtſein, mit allen Waffen des Talents
ausgeruͤſtet, ſind in dieſen Blaͤttern unverkennbar. Die
Quellen, aus denen ein dichteriſches Kunſtwerk entſteht,
die Art und Weiſe, wie es ſich hervorbildet, die Be¬
ziehungen, in welche es tritt — dieſe zarten, wichtigen,
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/361>, abgerufen am 24.11.2024.
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