Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

trachten, die unter seinen Augen vorgingen, und ihm
die wesentlichen Momente aller Volkserschütterungen
vorführten; er faßte früh den Gedanken, sich einen An¬
theil an diesen Vorgängen, da zur eingreifenden That
das bloße Wollen nicht genügt, wenigstens durch Ueber¬
lieferung und Ausbreitung zu erwerben. Von diesem
Vorsatz konnte der Schmerz über den unerwarteten
Ausgang ihn eine kurze Zeit ablenken, die obige Be¬
trachtung aber, wie viel wichtiger um diese Ereignisse
geworden, und die verworrnen und falschen Ansichten,
welche sich verbreiteten, mußten ihn darauf zurückführen.

Denn das Urtheil der Menge wie der hervorragen¬
den Einzelnen schwankte in entgegengesetzten Irrthü¬
mern, und die Unwissenheit entstellte wie die Lüge mit
verläumderischen Zügen das edle Bild dieser vaterlän¬
dischen Thatsachen. Auch konnte nicht so leicht die
Wahrheit inmitten so vieler Leidenschaften und Mei¬
nungen durchbrechen, denen insgesammt das Licht der
klaren Einsicht fehlen mußte. Denn alles, was den
Staat betrifft, verweilt bei uns Deutschen größtentheils
in der Heimlichkeit stiller Verhandlungen, und ihrem
Wesen nach können die Gründe und Triebfedern dessen,
was sichtbar wird, nur wenigen Eingeweihten bekannt
sein; die Vorgänge in und bei Hamburg machten hie¬
von keine Ausnahme, sie erfuhren überdies einen Zu¬
sammenfluß der ungewöhnlichsten Verwicklungen, wie
in so kurzer Frist und so engem Raume sich selten

trachten, die unter ſeinen Augen vorgingen, und ihm
die weſentlichen Momente aller Volkserſchuͤtterungen
vorfuͤhrten; er faßte fruͤh den Gedanken, ſich einen An¬
theil an dieſen Vorgaͤngen, da zur eingreifenden That
das bloße Wollen nicht genuͤgt, wenigſtens durch Ueber¬
lieferung und Ausbreitung zu erwerben. Von dieſem
Vorſatz konnte der Schmerz uͤber den unerwarteten
Ausgang ihn eine kurze Zeit ablenken, die obige Be¬
trachtung aber, wie viel wichtiger um dieſe Ereigniſſe
geworden, und die verworrnen und falſchen Anſichten,
welche ſich verbreiteten, mußten ihn darauf zuruͤckfuͤhren.

Denn das Urtheil der Menge wie der hervorragen¬
den Einzelnen ſchwankte in entgegengeſetzten Irrthuͤ¬
mern, und die Unwiſſenheit entſtellte wie die Luͤge mit
verlaͤumderiſchen Zuͤgen das edle Bild dieſer vaterlaͤn¬
diſchen Thatſachen. Auch konnte nicht ſo leicht die
Wahrheit inmitten ſo vieler Leidenſchaften und Mei¬
nungen durchbrechen, denen insgeſammt das Licht der
klaren Einſicht fehlen mußte. Denn alles, was den
Staat betrifft, verweilt bei uns Deutſchen groͤßtentheils
in der Heimlichkeit ſtiller Verhandlungen, und ihrem
Weſen nach koͤnnen die Gruͤnde und Triebfedern deſſen,
was ſichtbar wird, nur wenigen Eingeweihten bekannt
ſein; die Vorgaͤnge in und bei Hamburg machten hie¬
von keine Ausnahme, ſie erfuhren uͤberdies einen Zu¬
ſammenfluß der ungewoͤhnlichſten Verwicklungen, wie
in ſo kurzer Friſt und ſo engem Raume ſich ſelten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0262" n="250"/>
trachten, die unter &#x017F;einen Augen vorgingen, und ihm<lb/>
die we&#x017F;entlichen Momente aller Volkser&#x017F;chu&#x0364;tterungen<lb/>
vorfu&#x0364;hrten; er faßte fru&#x0364;h den Gedanken, &#x017F;ich einen An¬<lb/>
theil an die&#x017F;en Vorga&#x0364;ngen, da zur eingreifenden That<lb/>
das bloße Wollen nicht genu&#x0364;gt, wenig&#x017F;tens durch Ueber¬<lb/>
lieferung und Ausbreitung zu erwerben. Von die&#x017F;em<lb/>
Vor&#x017F;atz konnte der Schmerz u&#x0364;ber den unerwarteten<lb/>
Ausgang ihn eine kurze Zeit ablenken, die obige Be¬<lb/>
trachtung aber, wie viel wichtiger um die&#x017F;e Ereigni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
geworden, und die verworrnen und fal&#x017F;chen An&#x017F;ichten,<lb/>
welche &#x017F;ich verbreiteten, mußten ihn darauf zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hren.</p><lb/>
        <p>Denn das Urtheil der Menge wie der hervorragen¬<lb/>
den Einzelnen &#x017F;chwankte in entgegenge&#x017F;etzten Irrthu&#x0364;¬<lb/>
mern, und die Unwi&#x017F;&#x017F;enheit ent&#x017F;tellte wie die Lu&#x0364;ge mit<lb/>
verla&#x0364;umderi&#x017F;chen Zu&#x0364;gen das edle Bild die&#x017F;er vaterla&#x0364;<lb/>
di&#x017F;chen That&#x017F;achen. Auch konnte nicht &#x017F;o leicht die<lb/>
Wahrheit inmitten &#x017F;o vieler Leiden&#x017F;chaften und Mei¬<lb/>
nungen durchbrechen, denen insge&#x017F;ammt das Licht der<lb/>
klaren Ein&#x017F;icht fehlen mußte. Denn alles, was den<lb/>
Staat betrifft, verweilt bei uns Deut&#x017F;chen gro&#x0364;ßtentheils<lb/>
in der Heimlichkeit &#x017F;tiller Verhandlungen, und ihrem<lb/>
We&#x017F;en nach ko&#x0364;nnen die Gru&#x0364;nde und Triebfedern de&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
was &#x017F;ichtbar wird, nur wenigen Eingeweihten bekannt<lb/>
&#x017F;ein; die Vorga&#x0364;nge in und bei Hamburg machten hie¬<lb/>
von keine Ausnahme, &#x017F;ie erfuhren u&#x0364;berdies einen Zu¬<lb/>
&#x017F;ammenfluß der ungewo&#x0364;hnlich&#x017F;ten Verwicklungen, wie<lb/>
in &#x017F;o kurzer Fri&#x017F;t und &#x017F;o engem Raume &#x017F;ich &#x017F;elten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0262] trachten, die unter ſeinen Augen vorgingen, und ihm die weſentlichen Momente aller Volkserſchuͤtterungen vorfuͤhrten; er faßte fruͤh den Gedanken, ſich einen An¬ theil an dieſen Vorgaͤngen, da zur eingreifenden That das bloße Wollen nicht genuͤgt, wenigſtens durch Ueber¬ lieferung und Ausbreitung zu erwerben. Von dieſem Vorſatz konnte der Schmerz uͤber den unerwarteten Ausgang ihn eine kurze Zeit ablenken, die obige Be¬ trachtung aber, wie viel wichtiger um dieſe Ereigniſſe geworden, und die verworrnen und falſchen Anſichten, welche ſich verbreiteten, mußten ihn darauf zuruͤckfuͤhren. Denn das Urtheil der Menge wie der hervorragen¬ den Einzelnen ſchwankte in entgegengeſetzten Irrthuͤ¬ mern, und die Unwiſſenheit entſtellte wie die Luͤge mit verlaͤumderiſchen Zuͤgen das edle Bild dieſer vaterlaͤn¬ diſchen Thatſachen. Auch konnte nicht ſo leicht die Wahrheit inmitten ſo vieler Leidenſchaften und Mei¬ nungen durchbrechen, denen insgeſammt das Licht der klaren Einſicht fehlen mußte. Denn alles, was den Staat betrifft, verweilt bei uns Deutſchen groͤßtentheils in der Heimlichkeit ſtiller Verhandlungen, und ihrem Weſen nach koͤnnen die Gruͤnde und Triebfedern deſſen, was ſichtbar wird, nur wenigen Eingeweihten bekannt ſein; die Vorgaͤnge in und bei Hamburg machten hie¬ von keine Ausnahme, ſie erfuhren uͤberdies einen Zu¬ ſammenfluß der ungewoͤhnlichſten Verwicklungen, wie in ſo kurzer Friſt und ſo engem Raume ſich ſelten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/262
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/262>, abgerufen am 24.11.2024.