Meiste jedoch muß ich dem allgemeinen Zustande an¬ rechnen, der unwiderstehlich den Einzelnen ergriff, wie er die Gesammtheit ergriffen hatte; wohin man blickte, sah man Störung, Zerrissenheit, nach allen Richtungen nur ungewisse Zukunft, den politischen Kräften wider¬ strebten vergebens die geselligen und geistigen, sie mu߬ ten es fühlen, daß der bürgerliche Boden, der sie trug, erschüttert war. Daß die Universität Halle niederge¬ worfen blieb, war vielleicht für keinen Menschen ein so großer Verlust, als eben für mich; dort hätte sich mir in geordneter maßvoller Lebenshaltung und richtig umschränkter Bahn alles vereint, dessen ich bedurfte, und das ich nun in dem großen Weltwirrniß mit weit¬ greifenden und eifrig geschäftigen Mühen doch nur ver¬ gebens wieder zusammenzufassen trachtete. Denn auch für die Wissenschaften fehlte jede Einheit und Zusam¬ menstimmung, sie boten sich keiner Uebersicht mehr dar in nothwendig erachteten und doch der Auswahl frei¬ gestellten Lehrgängen, die Lehrer bildeten keine Gruppen mehr, noch weniger die Schüler; jeder ging nach Zu¬ fall dem augenblicklichen Gewinne nach, wie der Tag ihn geben wollte. Denn, wie locker auch das Band sein mag, welches die verschiedenartigsten, einander entlegensten Disciplinen, und, in den gleichartigen oder einander naheliegenden, die selten befreundeten und ein¬ stimmigen Lehrer auf unsern Universitäten zu verbin¬ den pflegt, so gewährt doch schon der Rahmen, der
Meiſte jedoch muß ich dem allgemeinen Zuſtande an¬ rechnen, der unwiderſtehlich den Einzelnen ergriff, wie er die Geſammtheit ergriffen hatte; wohin man blickte, ſah man Stoͤrung, Zerriſſenheit, nach allen Richtungen nur ungewiſſe Zukunft, den politiſchen Kraͤften wider¬ ſtrebten vergebens die geſelligen und geiſtigen, ſie mu߬ ten es fuͤhlen, daß der buͤrgerliche Boden, der ſie trug, erſchuͤttert war. Daß die Univerſitaͤt Halle niederge¬ worfen blieb, war vielleicht fuͤr keinen Menſchen ein ſo großer Verluſt, als eben fuͤr mich; dort haͤtte ſich mir in geordneter maßvoller Lebenshaltung und richtig umſchraͤnkter Bahn alles vereint, deſſen ich bedurfte, und das ich nun in dem großen Weltwirrniß mit weit¬ greifenden und eifrig geſchaͤftigen Muͤhen doch nur ver¬ gebens wieder zuſammenzufaſſen trachtete. Denn auch fuͤr die Wiſſenſchaften fehlte jede Einheit und Zuſam¬ menſtimmung, ſie boten ſich keiner Ueberſicht mehr dar in nothwendig erachteten und doch der Auswahl frei¬ geſtellten Lehrgaͤngen, die Lehrer bildeten keine Gruppen mehr, noch weniger die Schuͤler; jeder ging nach Zu¬ fall dem augenblicklichen Gewinne nach, wie der Tag ihn geben wollte. Denn, wie locker auch das Band ſein mag, welches die verſchiedenartigſten, einander entlegenſten Disciplinen, und, in den gleichartigen oder einander naheliegenden, die ſelten befreundeten und ein¬ ſtimmigen Lehrer auf unſern Univerſitaͤten zu verbin¬ den pflegt, ſo gewaͤhrt doch ſchon der Rahmen, der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0065"n="53"/>
Meiſte jedoch muß ich dem allgemeinen Zuſtande an¬<lb/>
rechnen, der unwiderſtehlich den Einzelnen ergriff, wie<lb/>
er die Geſammtheit ergriffen hatte; wohin man blickte,<lb/>ſah man Stoͤrung, Zerriſſenheit, nach allen Richtungen<lb/>
nur ungewiſſe Zukunft, den politiſchen Kraͤften wider¬<lb/>ſtrebten vergebens die geſelligen und geiſtigen, ſie mu߬<lb/>
ten es fuͤhlen, daß der buͤrgerliche Boden, der ſie trug,<lb/>
erſchuͤttert war. Daß die Univerſitaͤt Halle niederge¬<lb/>
worfen blieb, war vielleicht fuͤr keinen Menſchen ein<lb/>ſo großer Verluſt, als eben fuͤr mich; dort haͤtte ſich<lb/>
mir in geordneter maßvoller Lebenshaltung und richtig<lb/>
umſchraͤnkter Bahn alles vereint, deſſen ich bedurfte,<lb/>
und das ich nun in dem großen Weltwirrniß mit weit¬<lb/>
greifenden und eifrig geſchaͤftigen Muͤhen doch nur ver¬<lb/>
gebens wieder zuſammenzufaſſen trachtete. Denn auch<lb/>
fuͤr die Wiſſenſchaften fehlte jede Einheit und Zuſam¬<lb/>
menſtimmung, ſie boten ſich keiner Ueberſicht mehr dar<lb/>
in nothwendig erachteten und doch der Auswahl frei¬<lb/>
geſtellten Lehrgaͤngen, die Lehrer bildeten keine Gruppen<lb/>
mehr, noch weniger die Schuͤler; jeder ging nach Zu¬<lb/>
fall dem augenblicklichen Gewinne nach, wie der Tag<lb/>
ihn geben wollte. Denn, wie locker auch das Band<lb/>ſein mag, welches die verſchiedenartigſten, einander<lb/>
entlegenſten Disciplinen, und, in den gleichartigen oder<lb/>
einander naheliegenden, die ſelten befreundeten und ein¬<lb/>ſtimmigen Lehrer auf unſern Univerſitaͤten zu verbin¬<lb/>
den pflegt, ſo gewaͤhrt doch ſchon der Rahmen, der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[53/0065]
Meiſte jedoch muß ich dem allgemeinen Zuſtande an¬
rechnen, der unwiderſtehlich den Einzelnen ergriff, wie
er die Geſammtheit ergriffen hatte; wohin man blickte,
ſah man Stoͤrung, Zerriſſenheit, nach allen Richtungen
nur ungewiſſe Zukunft, den politiſchen Kraͤften wider¬
ſtrebten vergebens die geſelligen und geiſtigen, ſie mu߬
ten es fuͤhlen, daß der buͤrgerliche Boden, der ſie trug,
erſchuͤttert war. Daß die Univerſitaͤt Halle niederge¬
worfen blieb, war vielleicht fuͤr keinen Menſchen ein
ſo großer Verluſt, als eben fuͤr mich; dort haͤtte ſich
mir in geordneter maßvoller Lebenshaltung und richtig
umſchraͤnkter Bahn alles vereint, deſſen ich bedurfte,
und das ich nun in dem großen Weltwirrniß mit weit¬
greifenden und eifrig geſchaͤftigen Muͤhen doch nur ver¬
gebens wieder zuſammenzufaſſen trachtete. Denn auch
fuͤr die Wiſſenſchaften fehlte jede Einheit und Zuſam¬
menſtimmung, ſie boten ſich keiner Ueberſicht mehr dar
in nothwendig erachteten und doch der Auswahl frei¬
geſtellten Lehrgaͤngen, die Lehrer bildeten keine Gruppen
mehr, noch weniger die Schuͤler; jeder ging nach Zu¬
fall dem augenblicklichen Gewinne nach, wie der Tag
ihn geben wollte. Denn, wie locker auch das Band
ſein mag, welches die verſchiedenartigſten, einander
entlegenſten Disciplinen, und, in den gleichartigen oder
einander naheliegenden, die ſelten befreundeten und ein¬
ſtimmigen Lehrer auf unſern Univerſitaͤten zu verbin¬
den pflegt, ſo gewaͤhrt doch ſchon der Rahmen, der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/65>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.