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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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boldt (welcher Montag nach Halle reist), und habe nur ein-
mal die Xenien und alles von Goethe durchlesen können. Vom
Meister zu sprechen ist noch nicht genug, den muß man
zusammen lesen; das Schreiben hass' ich wirklich mehr als
jemals. Wie er über Kunst, Musik und Theater spricht,
S. 409--411. Überhaupt, die Satisfaktionen, die ich darin
erlebe, gehen doch weit; sie müssen's im Lesen merken. Aber
Sie haben mich lange nicht gesehen; und ich habe mich sehr
verändert. Wie er sagt, die Leute nehmen immer bei Kunst-
werken u. dgl. ihr Gewissen und andere armselige Bedürfnisse
mit! Sehen Sie, daß Mignon die interessanteste ist? Das
Zucken vom Munde nach der linken Seite nahm mich gleich
ein. Wie lieb ist's mir, daß sie starb; und an ihrem eigenen
Herzen! Hingegen hass' ich die Therese cordialement. Warum
ist sie nicht mit einer Perücke geboren? Da wäre ja der Ver-
walter gleich fertig gewesen. Gesehen hab' ich sie nun frei-
lich nicht: also hübsch, sehr hübsch kann sie gewesen sein --
und ein Lothario, kann zuletzt alles, besonders wenn er ehrlich
wird, oder ist. Daß Wilhelm die nicht bekommen hat, hat
mir ordentlich die Brust befreit. Wie meisterhaft ist es von
Goethe, seine Personnagen so kennbar zu beschreiben und spre-
chen zu lassen, und nie seine feine, gebildete Sprache zu ver-
läugnen! Wie meisterhaft ist Laertes, mit welchem tiefen und
leichten Blick in den gewöhnlichsten Menschen, durch ein paar
Züge und Ursachen dargestellt. Friedrich aber, im letzten
Theile, den hat er sprechen hören, das erfindet auch er nicht.
Wie er denn überhaupt oft gehorcht haben muß: und das
Vertrauen aller Arten von Menschen muß zu besitzen gewußt

boldt (welcher Montag nach Halle reiſt), und habe nur ein-
mal die Xenien und alles von Goethe durchleſen können. Vom
Meiſter zu ſprechen iſt noch nicht genug, den muß man
zuſammen leſen; das Schreiben haſſ’ ich wirklich mehr als
jemals. Wie er über Kunſt, Muſik und Theater ſpricht,
S. 409—411. Überhaupt, die Satisfaktionen, die ich darin
erlebe, gehen doch weit; ſie müſſen’s im Leſen merken. Aber
Sie haben mich lange nicht geſehen; und ich habe mich ſehr
verändert. Wie er ſagt, die Leute nehmen immer bei Kunſt-
werken u. dgl. ihr Gewiſſen und andere armſelige Bedürfniſſe
mit! Sehen Sie, daß Mignon die intereſſanteſte iſt? Das
Zucken vom Munde nach der linken Seite nahm mich gleich
ein. Wie lieb iſt’s mir, daß ſie ſtarb; und an ihrem eigenen
Herzen! Hingegen haſſ’ ich die Thereſe cordialement. Warum
iſt ſie nicht mit einer Perücke geboren? Da wäre ja der Ver-
walter gleich fertig geweſen. Geſehen hab’ ich ſie nun frei-
lich nicht: alſo hübſch, ſehr hübſch kann ſie geweſen ſein —
und ein Lothario, kann zuletzt alles, beſonders wenn er ehrlich
wird, oder iſt. Daß Wilhelm die nicht bekommen hat, hat
mir ordentlich die Bruſt befreit. Wie meiſterhaft iſt es von
Goethe, ſeine Perſonnagen ſo kennbar zu beſchreiben und ſpre-
chen zu laſſen, und nie ſeine feine, gebildete Sprache zu ver-
läugnen! Wie meiſterhaft iſt Laertes, mit welchem tiefen und
leichten Blick in den gewöhnlichſten Menſchen, durch ein paar
Züge und Urſachen dargeſtellt. Friedrich aber, im letzten
Theile, den hat er ſprechen hören, das erfindet auch er nicht.
Wie er denn überhaupt oft gehorcht haben muß: und das
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[168/0182] boldt (welcher Montag nach Halle reiſt), und habe nur ein- mal die Xenien und alles von Goethe durchleſen können. Vom Meiſter zu ſprechen iſt noch nicht genug, den muß man zuſammen leſen; das Schreiben haſſ’ ich wirklich mehr als jemals. Wie er über Kunſt, Muſik und Theater ſpricht, S. 409—411. Überhaupt, die Satisfaktionen, die ich darin erlebe, gehen doch weit; ſie müſſen’s im Leſen merken. Aber Sie haben mich lange nicht geſehen; und ich habe mich ſehr verändert. Wie er ſagt, die Leute nehmen immer bei Kunſt- werken u. dgl. ihr Gewiſſen und andere armſelige Bedürfniſſe mit! Sehen Sie, daß Mignon die intereſſanteſte iſt? Das Zucken vom Munde nach der linken Seite nahm mich gleich ein. Wie lieb iſt’s mir, daß ſie ſtarb; und an ihrem eigenen Herzen! Hingegen haſſ’ ich die Thereſe cordialement. Warum iſt ſie nicht mit einer Perücke geboren? Da wäre ja der Ver- walter gleich fertig geweſen. Geſehen hab’ ich ſie nun frei- lich nicht: alſo hübſch, ſehr hübſch kann ſie geweſen ſein — und ein Lothario, kann zuletzt alles, beſonders wenn er ehrlich wird, oder iſt. Daß Wilhelm die nicht bekommen hat, hat mir ordentlich die Bruſt befreit. Wie meiſterhaft iſt es von Goethe, ſeine Perſonnagen ſo kennbar zu beſchreiben und ſpre- chen zu laſſen, und nie ſeine feine, gebildete Sprache zu ver- läugnen! Wie meiſterhaft iſt Laertes, mit welchem tiefen und leichten Blick in den gewöhnlichſten Menſchen, durch ein paar Züge und Urſachen dargeſtellt. Friedrich aber, im letzten Theile, den hat er ſprechen hören, das erfindet auch er nicht. Wie er denn überhaupt oft gehorcht haben muß: und das Vertrauen aller Arten von Menſchen muß zu beſitzen gewußt

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/182>, abgerufen am 22.12.2024.