an welchem wir selbst zu bilden vermögen, und auch genöthigt sind immerweg zu bilden. Wir mögen sein wie wir wollen, wir mögen machen, was wir wollen, wir haben das Bedürf- niß liebenswürdig zu sein. Diesem schönen, reinen, mensch- lichsten, lieblichsten Triebe folgen wir Alle. Im höchsten Sinne genommen -- aber auch bis auf das Zersplittertste hinab -- das ganze Lebensgewebe der Menschen, als Men- schen, ist nichts als dies ins Unendliche modifizirt. In Ihnen, als in einem zarten, lebhaften Gemüthe, ist dieses Bedürfniß dann auch sehr lebhaft. Was in der Welt ist aber liebens- würdiger -- und glücklicher -- als eine aufgeschlossene Seele für alles, was Menschen betreffen kann! und was hinwieder giebt eine reinere Laune, als eben dieser Zustand, der sich selbst durch seine Dauer, durch sein bloßes Dasein, erhöht und pro- pagirt! Die ganze Welt gewinnt Sie; und Sie die ganze Welt! Kommen Sie davon zurück -- welches die Irrmeinung noch so vieler Guten ist -- das man nur Eines mit ganzer Seele fassen kann. Prägen Sie sich recht ein, es entsprosse Ihnen einen Augenblick die Überzeugung, was liebens- würdig ist, und Sie sind es! nicht, wie Sie mir heute schrie- ben, "eine Arbeit ist es," die ich fordere -- wozu Sie jetzt unfähig sind, wozu man immer unfähig ist -- sondern einen Augenblick von Überzeugung, einen Augenblick gesunder An- sicht fordere ich.
Mehr gedemüthigt, als ich, wird man nicht, mehr Kum- mer genießt man nicht; größeres Unglück in allem, worauf man den größten und kleinsten Werth setzt, erlebt man nicht, mehr sieh man nicht untergehen; eine gepeinigtere Ju-
an welchem wir ſelbſt zu bilden vermögen, und auch genöthigt ſind immerweg zu bilden. Wir mögen ſein wie wir wollen, wir mögen machen, was wir wollen, wir haben das Bedürf- niß liebenswürdig zu ſein. Dieſem ſchönen, reinen, menſch- lichſten, lieblichſten Triebe folgen wir Alle. Im höchſten Sinne genommen — aber auch bis auf das Zerſplittertſte hinab — das ganze Lebensgewebe der Menſchen, als Men- ſchen, iſt nichts als dies ins Unendliche modifizirt. In Ihnen, als in einem zarten, lebhaften Gemüthe, iſt dieſes Bedürfniß dann auch ſehr lebhaft. Was in der Welt iſt aber liebens- würdiger — und glücklicher — als eine aufgeſchloſſene Seele für alles, was Menſchen betreffen kann! und was hinwieder giebt eine reinere Laune, als eben dieſer Zuſtand, der ſich ſelbſt durch ſeine Dauer, durch ſein bloßes Daſein, erhöht und pro- pagirt! Die ganze Welt gewinnt Sie; und Sie die ganze Welt! Kommen Sie davon zurück — welches die Irrmeinung noch ſo vieler Guten iſt — das man nur Eines mit ganzer Seele faſſen kann. Prägen Sie ſich recht ein, es entſproſſe Ihnen einen Augenblick die Überzeugung, was liebens- würdig iſt, und Sie ſind es! nicht, wie Sie mir heute ſchrie- ben, „eine Arbeit iſt es,“ die ich fordere — wozu Sie jetzt unfähig ſind, wozu man immer unfähig iſt — ſondern einen Augenblick von Überzeugung, einen Augenblick geſunder An- ſicht fordere ich.
Mehr gedemüthigt, als ich, wird man nicht, mehr Kum- mer genießt man nicht; größeres Unglück in allem, worauf man den größten und kleinſten Werth ſetzt, erlebt man nicht, mehr ſieh man nicht untergehen; eine gepeinigtere Ju-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0338"n="324"/>
an welchem wir ſelbſt zu bilden vermögen, und auch genöthigt<lb/>ſind immerweg zu bilden. Wir mögen ſein wie wir wollen,<lb/>
wir mögen machen, was wir wollen, wir haben das Bedürf-<lb/>
niß liebenswürdig zu ſein. Dieſem ſchönen, reinen, menſch-<lb/>
lichſten, lieblichſten Triebe folgen wir Alle. Im höchſten<lb/>
Sinne genommen — aber auch bis auf das Zerſplittertſte<lb/>
hinab — das ganze Lebensgewebe der Menſchen, als Men-<lb/>ſchen, iſt nichts als dies ins Unendliche modifizirt. In Ihnen,<lb/>
als in einem zarten, lebhaften Gemüthe, iſt dieſes Bedürfniß<lb/>
dann auch ſehr lebhaft. Was in der Welt iſt aber liebens-<lb/>
würdiger — und glücklicher — als eine aufgeſchloſſene Seele<lb/>
für alles, was Menſchen betreffen kann! und was hinwieder<lb/>
giebt eine reinere Laune, als eben dieſer Zuſtand, der ſich ſelbſt<lb/>
durch ſeine Dauer, durch ſein bloßes Daſein, erhöht und pro-<lb/>
pagirt! Die ganze Welt gewinnt Sie; und Sie die ganze<lb/>
Welt! Kommen Sie davon zurück — welches die Irrmeinung<lb/>
noch ſo vieler Guten iſt — das man nur Eines mit ganzer<lb/>
Seele faſſen kann. Prägen Sie ſich recht ein, es entſproſſe<lb/>
Ihnen <hirendition="#g">einen Augenblick</hi> die Überzeugung, <hirendition="#g">was</hi> liebens-<lb/>
würdig iſt, und Sie ſind es! nicht, wie Sie mir heute ſchrie-<lb/>
ben, „eine Arbeit iſt es,“ die ich fordere — wozu Sie jetzt<lb/>
unfähig ſind, wozu man immer unfähig iſt —ſondern einen<lb/>
Augenblick von Überzeugung, einen Augenblick geſunder An-<lb/>ſicht fordere ich.</p><lb/><p>Mehr gedemüthigt, als ich, wird man nicht, mehr Kum-<lb/>
mer genießt man nicht; größeres Unglück in <hirendition="#g">allem</hi>, worauf<lb/>
man den <hirendition="#g">größten</hi> und kleinſten Werth ſetzt, erlebt man<lb/>
nicht, mehr ſieh man nicht untergehen; eine gepeinigtere Ju-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[324/0338]
an welchem wir ſelbſt zu bilden vermögen, und auch genöthigt
ſind immerweg zu bilden. Wir mögen ſein wie wir wollen,
wir mögen machen, was wir wollen, wir haben das Bedürf-
niß liebenswürdig zu ſein. Dieſem ſchönen, reinen, menſch-
lichſten, lieblichſten Triebe folgen wir Alle. Im höchſten
Sinne genommen — aber auch bis auf das Zerſplittertſte
hinab — das ganze Lebensgewebe der Menſchen, als Men-
ſchen, iſt nichts als dies ins Unendliche modifizirt. In Ihnen,
als in einem zarten, lebhaften Gemüthe, iſt dieſes Bedürfniß
dann auch ſehr lebhaft. Was in der Welt iſt aber liebens-
würdiger — und glücklicher — als eine aufgeſchloſſene Seele
für alles, was Menſchen betreffen kann! und was hinwieder
giebt eine reinere Laune, als eben dieſer Zuſtand, der ſich ſelbſt
durch ſeine Dauer, durch ſein bloßes Daſein, erhöht und pro-
pagirt! Die ganze Welt gewinnt Sie; und Sie die ganze
Welt! Kommen Sie davon zurück — welches die Irrmeinung
noch ſo vieler Guten iſt — das man nur Eines mit ganzer
Seele faſſen kann. Prägen Sie ſich recht ein, es entſproſſe
Ihnen einen Augenblick die Überzeugung, was liebens-
würdig iſt, und Sie ſind es! nicht, wie Sie mir heute ſchrie-
ben, „eine Arbeit iſt es,“ die ich fordere — wozu Sie jetzt
unfähig ſind, wozu man immer unfähig iſt — ſondern einen
Augenblick von Überzeugung, einen Augenblick geſunder An-
ſicht fordere ich.
Mehr gedemüthigt, als ich, wird man nicht, mehr Kum-
mer genießt man nicht; größeres Unglück in allem, worauf
man den größten und kleinſten Werth ſetzt, erlebt man
nicht, mehr ſieh man nicht untergehen; eine gepeinigtere Ju-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/338>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.