lasse ich mir nicht weiß machen, daß die, welche nichts von Kunst wüßten, die Natur recht liebten: wie Thieren traue ich ihnen nie! sie sind zahm, so lange sie nicht beißen; ich aber sehe sie zum Aufspringen immer fertig. Ich bin bei diesen Zeilen recht traurig geworden. Gott! hab' ich denn alles verspielen müssen! Alles verlieren, bis auf freundlichen leisen Umgang? Nun, wir werden uns ja wohl noch Einmal sehen: und dann will ich's versuchen, Ihnen mein ganzes Leben in eine kurze Er- zählung zu drängen. Es ist nur noch trauriger, daß es keine Titel hat -- Unglück ohne Titel und ohne Rächer und Theil- nahme -- man zählt es für nichts! -- ein Tropfen Blut, und alle Tribunale, alle Zeugen stehen auf; ein blauer Fleck wird geahndet! Nur nicht was mir geschehen ist. Es thut mir leid, daß so allerhand in meinem Briefe vorkommt: aber es geht nicht anders, und auch darum schreib' ich oft nicht: von Haus zu Haus, da kann man beim Scherz bleiben, da schreibt man sich des Tages Vorfall und seine Narrheit, und da ist selbst Ernsteres nicht so erdrückend und schwer an seiner Stelle, denn die Welle nimmt es mit; aber ein solcher Todten- gräber, wie dieser Brief, muß, wenn er etwas wird, schmerz- haft werden! Verzeihen Sie ihn mir. Ich muß Ihnen aber doch sagen, daß ich den Sommer, das Wetter, und die Luft und das Feld, genossen habe, wie noch wenige in meinem Le- ben. Vom Winter der Verzweiflung nah, und ganz ver- magert, sah ich wieder einem eingemauerten Sommer in Berlin entgegen, wo ich abends um 11. mit dem Bedienten ein bischen durch die Straßen gehen würde -- so ist seit vielen Sommern meine Lage; -- ich war allein und wollte
laſſe ich mir nicht weiß machen, daß die, welche nichts von Kunſt wüßten, die Natur recht liebten: wie Thieren traue ich ihnen nie! ſie ſind zahm, ſo lange ſie nicht beißen; ich aber ſehe ſie zum Aufſpringen immer fertig. Ich bin bei dieſen Zeilen recht traurig geworden. Gott! hab’ ich denn alles verſpielen müſſen! Alles verlieren, bis auf freundlichen leiſen Umgang? Nun, wir werden uns ja wohl noch Einmal ſehen: und dann will ich’s verſuchen, Ihnen mein ganzes Leben in eine kurze Er- zählung zu drängen. Es iſt nur noch trauriger, daß es keine Titel hat — Unglück ohne Titel und ohne Rächer und Theil- nahme — man zählt es für nichts! — ein Tropfen Blut, und alle Tribunale, alle Zeugen ſtehen auf; ein blauer Fleck wird geahndet! Nur nicht was mir geſchehen iſt. Es thut mir leid, daß ſo allerhand in meinem Briefe vorkommt: aber es geht nicht anders, und auch darum ſchreib’ ich oft nicht: von Haus zu Haus, da kann man beim Scherz bleiben, da ſchreibt man ſich des Tages Vorfall und ſeine Narrheit, und da iſt ſelbſt Ernſteres nicht ſo erdrückend und ſchwer an ſeiner Stelle, denn die Welle nimmt es mit; aber ein ſolcher Todten- gräber, wie dieſer Brief, muß, wenn er etwas wird, ſchmerz- haft werden! Verzeihen Sie ihn mir. Ich muß Ihnen aber doch ſagen, daß ich den Sommer, das Wetter, und die Luft und das Feld, genoſſen habe, wie noch wenige in meinem Le- ben. Vom Winter der Verzweiflung nah, und ganz ver- magert, ſah ich wieder einem eingemauerten Sommer in Berlin entgegen, wo ich abends um 11. mit dem Bedienten ein bischen durch die Straßen gehen würde — ſo iſt ſeit vielen Sommern meine Lage; — ich war allein und wollte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0347"n="333"/>
laſſe ich mir nicht weiß machen, daß die, welche nichts von<lb/>
Kunſt wüßten, die Natur recht liebten: wie Thieren traue ich ihnen<lb/><hirendition="#g">nie</hi>! ſie ſind <hirendition="#g">zahm</hi>, ſo <hirendition="#g">lange</hi>ſie nicht beißen; ich aber ſehe<lb/>ſie zum Aufſpringen immer fertig. Ich bin bei dieſen Zeilen<lb/>
recht traurig geworden. Gott! hab’ ich denn alles verſpielen<lb/>
müſſen! Alles verlieren, bis auf freundlichen leiſen Umgang? Nun,<lb/>
wir werden uns ja wohl noch Einmal ſehen: und dann will<lb/>
ich’s verſuchen, Ihnen mein ganzes Leben in eine kurze Er-<lb/>
zählung zu drängen. Es iſt nur <hirendition="#g">noch</hi> trauriger, daß es keine<lb/>
Titel hat — Unglück ohne Titel und ohne Rächer und Theil-<lb/>
nahme — man zählt es für nichts! — ein <hirendition="#g">Tropfen</hi> Blut,<lb/>
und alle Tribunale, alle Zeugen ſtehen auf; ein blauer Fleck<lb/>
wird geahndet! Nur nicht was mir geſchehen iſt. Es thut<lb/>
mir leid, daß ſo allerhand in meinem Briefe vorkommt: aber<lb/>
es geht nicht anders, und auch darum ſchreib’ ich oft nicht:<lb/>
von Haus zu Haus, da kann man beim Scherz bleiben, da<lb/>ſchreibt man ſich des Tages Vorfall und ſeine Narrheit, und<lb/>
da iſt ſelbſt Ernſteres nicht ſo erdrückend und ſchwer an ſeiner<lb/>
Stelle, denn die Welle nimmt es mit; aber ein ſolcher Todten-<lb/>
gräber, wie dieſer Brief, muß, wenn er etwas wird, ſchmerz-<lb/>
haft werden! Verzeihen Sie ihn mir. Ich muß Ihnen aber<lb/>
doch ſagen, daß ich den Sommer, das Wetter, und die Luft<lb/>
und das Feld, genoſſen habe, wie noch wenige in meinem Le-<lb/>
ben. Vom <hirendition="#g">Winter</hi> der Verzweiflung nah, und ganz ver-<lb/>
magert, ſah ich <hirendition="#g">wieder</hi> einem eingemauerten Sommer in<lb/>
Berlin entgegen, wo ich abends um 11. mit dem Bedienten<lb/>
ein bischen durch die <hirendition="#g">Straßen</hi> gehen würde —ſo iſt ſeit<lb/>
vielen Sommern meine Lage; — ich war allein und <hirendition="#g">wollte</hi><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[333/0347]
laſſe ich mir nicht weiß machen, daß die, welche nichts von
Kunſt wüßten, die Natur recht liebten: wie Thieren traue ich ihnen
nie! ſie ſind zahm, ſo lange ſie nicht beißen; ich aber ſehe
ſie zum Aufſpringen immer fertig. Ich bin bei dieſen Zeilen
recht traurig geworden. Gott! hab’ ich denn alles verſpielen
müſſen! Alles verlieren, bis auf freundlichen leiſen Umgang? Nun,
wir werden uns ja wohl noch Einmal ſehen: und dann will
ich’s verſuchen, Ihnen mein ganzes Leben in eine kurze Er-
zählung zu drängen. Es iſt nur noch trauriger, daß es keine
Titel hat — Unglück ohne Titel und ohne Rächer und Theil-
nahme — man zählt es für nichts! — ein Tropfen Blut,
und alle Tribunale, alle Zeugen ſtehen auf; ein blauer Fleck
wird geahndet! Nur nicht was mir geſchehen iſt. Es thut
mir leid, daß ſo allerhand in meinem Briefe vorkommt: aber
es geht nicht anders, und auch darum ſchreib’ ich oft nicht:
von Haus zu Haus, da kann man beim Scherz bleiben, da
ſchreibt man ſich des Tages Vorfall und ſeine Narrheit, und
da iſt ſelbſt Ernſteres nicht ſo erdrückend und ſchwer an ſeiner
Stelle, denn die Welle nimmt es mit; aber ein ſolcher Todten-
gräber, wie dieſer Brief, muß, wenn er etwas wird, ſchmerz-
haft werden! Verzeihen Sie ihn mir. Ich muß Ihnen aber
doch ſagen, daß ich den Sommer, das Wetter, und die Luft
und das Feld, genoſſen habe, wie noch wenige in meinem Le-
ben. Vom Winter der Verzweiflung nah, und ganz ver-
magert, ſah ich wieder einem eingemauerten Sommer in
Berlin entgegen, wo ich abends um 11. mit dem Bedienten
ein bischen durch die Straßen gehen würde — ſo iſt ſeit
vielen Sommern meine Lage; — ich war allein und wollte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/347>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.