Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

nachdem sie lange in meiner Verwahrung gewesen, sind leider
im Jahre 1813 verloren und wahrscheinlich vernichtet worden,
bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es scheint,
als solle dergleichen nicht zum litterarischen Denkmal werden,
sondern heimgehen mit den Personen, denen es unmittelbar
gehörte. Nächte lang saß ich über diesen Blättern, ich lernte
kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr,
was in meiner Ahndung geschlummert, wurde mir zur wachen
Anschauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu
diesen Schriften gekommen war, und an solchem Dasein so
nahen Antheil gewann."

"Die Fülle und Kraft persönlicher Lebensentwicklung wa-
ren mit der Schönheit und Erhebung dichterischen und philo-
sophischen Geistlebens in engem Bündnisse, sie bewegten sich
beiderseits in bezugvoller Übereinstimmung. Schon sehr früh,
weit früher, als irgend eine litterarische Meinung der Art sich
gebildet hatte, war Rahel von Goethe's Außerordentlichkeit
getroffen, von der Macht seines Genius eingenommen und
bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus-
gestellt, ihn für den höchsten, den einzigen Dichter erklärt,
ihn als ihren Gewährsmann und Bestätiger in allen Einsich-
ten und Urtheilen des Lebens enthusiastisch angepriesen. Jetzt
erscheint das sehr leicht und natürlich, und niemand will Goe-
the's hohes Hervorragen verneinen, denn sogar im Bemühen
sie einzuschränken giebt man die Bejahung zu, allein damals,
wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftsteller
mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran-
standen, wo die Nation über den Gehalt und sogar über die

nachdem ſie lange in meiner Verwahrung geweſen, ſind leider
im Jahre 1813 verloren und wahrſcheinlich vernichtet worden,
bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es ſcheint,
als ſolle dergleichen nicht zum litterariſchen Denkmal werden,
ſondern heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar
gehörte. Nächte lang ſaß ich über dieſen Blättern, ich lernte
kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr,
was in meiner Ahndung geſchlummert, wurde mir zur wachen
Anſchauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu
dieſen Schriften gekommen war, und an ſolchem Daſein ſo
nahen Antheil gewann.“

„Die Fülle und Kraft perſönlicher Lebensentwicklung wa-
ren mit der Schönheit und Erhebung dichteriſchen und philo-
ſophiſchen Geiſtlebens in engem Bündniſſe, ſie bewegten ſich
beiderſeits in bezugvoller Übereinſtimmung. Schon ſehr früh,
weit früher, als irgend eine litterariſche Meinung der Art ſich
gebildet hatte, war Rahel von Goethe’s Außerordentlichkeit
getroffen, von der Macht ſeines Genius eingenommen und
bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus-
geſtellt, ihn für den höchſten, den einzigen Dichter erklärt,
ihn als ihren Gewährsmann und Beſtätiger in allen Einſich-
ten und Urtheilen des Lebens enthuſiaſtiſch angeprieſen. Jetzt
erſcheint das ſehr leicht und natürlich, und niemand will Goe-
the’s hohes Hervorragen verneinen, denn ſogar im Bemühen
ſie einzuſchränken giebt man die Bejahung zu, allein damals,
wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftſteller
mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran-
ſtanden, wo die Nation über den Gehalt und ſogar über die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0035" n="21"/>
nachdem &#x017F;ie lange in meiner Verwahrung gewe&#x017F;en, &#x017F;ind leider<lb/>
im Jahre 1813 verloren und wahr&#x017F;cheinlich vernichtet worden,<lb/>
bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es &#x017F;cheint,<lb/>
als &#x017F;olle dergleichen nicht zum litterari&#x017F;chen Denkmal werden,<lb/>
&#x017F;ondern heimgehen mit den Per&#x017F;onen, denen es unmittelbar<lb/>
gehörte. Nächte lang &#x017F;aß ich über die&#x017F;en Blättern, ich lernte<lb/>
kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr,<lb/>
was in meiner Ahndung ge&#x017F;chlummert, wurde mir zur wachen<lb/>
An&#x017F;chauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu<lb/>
die&#x017F;en Schriften gekommen war, und an &#x017F;olchem Da&#x017F;ein &#x017F;o<lb/>
nahen Antheil gewann.&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Die Fülle und Kraft per&#x017F;önlicher Lebensentwicklung wa-<lb/>
ren mit der Schönheit und Erhebung dichteri&#x017F;chen und philo-<lb/>
&#x017F;ophi&#x017F;chen Gei&#x017F;tlebens in engem Bündni&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ie bewegten &#x017F;ich<lb/>
beider&#x017F;eits in bezugvoller Überein&#x017F;timmung. Schon &#x017F;ehr früh,<lb/>
weit früher, als irgend eine litterari&#x017F;che Meinung der Art &#x017F;ich<lb/>
gebildet hatte, war Rahel von Goethe&#x2019;s Außerordentlichkeit<lb/>
getroffen, von der Macht &#x017F;eines Genius eingenommen und<lb/>
bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus-<lb/>
ge&#x017F;tellt, ihn für den höch&#x017F;ten, den einzigen Dichter erklärt,<lb/>
ihn als ihren Gewährsmann und Be&#x017F;tätiger in allen Ein&#x017F;ich-<lb/>
ten und Urtheilen des Lebens enthu&#x017F;ia&#x017F;ti&#x017F;ch angeprie&#x017F;en. Jetzt<lb/>
er&#x017F;cheint das &#x017F;ehr leicht und natürlich, und niemand will Goe-<lb/>
the&#x2019;s hohes Hervorragen verneinen, denn &#x017F;ogar im Bemühen<lb/>
&#x017F;ie einzu&#x017F;chränken giebt man die Bejahung zu, allein damals,<lb/>
wo der künftige Heros noch in der Menge der Schrift&#x017F;teller<lb/>
mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran-<lb/>
&#x017F;tanden, wo die Nation über den Gehalt und &#x017F;ogar über die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0035] nachdem ſie lange in meiner Verwahrung geweſen, ſind leider im Jahre 1813 verloren und wahrſcheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es ſcheint, als ſolle dergleichen nicht zum litterariſchen Denkmal werden, ſondern heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar gehörte. Nächte lang ſaß ich über dieſen Blättern, ich lernte kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr, was in meiner Ahndung geſchlummert, wurde mir zur wachen Anſchauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu dieſen Schriften gekommen war, und an ſolchem Daſein ſo nahen Antheil gewann.“ „Die Fülle und Kraft perſönlicher Lebensentwicklung wa- ren mit der Schönheit und Erhebung dichteriſchen und philo- ſophiſchen Geiſtlebens in engem Bündniſſe, ſie bewegten ſich beiderſeits in bezugvoller Übereinſtimmung. Schon ſehr früh, weit früher, als irgend eine litterariſche Meinung der Art ſich gebildet hatte, war Rahel von Goethe’s Außerordentlichkeit getroffen, von der Macht ſeines Genius eingenommen und bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus- geſtellt, ihn für den höchſten, den einzigen Dichter erklärt, ihn als ihren Gewährsmann und Beſtätiger in allen Einſich- ten und Urtheilen des Lebens enthuſiaſtiſch angeprieſen. Jetzt erſcheint das ſehr leicht und natürlich, und niemand will Goe- the’s hohes Hervorragen verneinen, denn ſogar im Bemühen ſie einzuſchränken giebt man die Bejahung zu, allein damals, wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftſteller mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran- ſtanden, wo die Nation über den Gehalt und ſogar über die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/35
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/35>, abgerufen am 22.12.2024.