nachdem sie lange in meiner Verwahrung gewesen, sind leider im Jahre 1813 verloren und wahrscheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es scheint, als solle dergleichen nicht zum litterarischen Denkmal werden, sondern heimgehen mit den Personen, denen es unmittelbar gehörte. Nächte lang saß ich über diesen Blättern, ich lernte kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr, was in meiner Ahndung geschlummert, wurde mir zur wachen Anschauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu diesen Schriften gekommen war, und an solchem Dasein so nahen Antheil gewann."
"Die Fülle und Kraft persönlicher Lebensentwicklung wa- ren mit der Schönheit und Erhebung dichterischen und philo- sophischen Geistlebens in engem Bündnisse, sie bewegten sich beiderseits in bezugvoller Übereinstimmung. Schon sehr früh, weit früher, als irgend eine litterarische Meinung der Art sich gebildet hatte, war Rahel von Goethe's Außerordentlichkeit getroffen, von der Macht seines Genius eingenommen und bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus- gestellt, ihn für den höchsten, den einzigen Dichter erklärt, ihn als ihren Gewährsmann und Bestätiger in allen Einsich- ten und Urtheilen des Lebens enthusiastisch angepriesen. Jetzt erscheint das sehr leicht und natürlich, und niemand will Goe- the's hohes Hervorragen verneinen, denn sogar im Bemühen sie einzuschränken giebt man die Bejahung zu, allein damals, wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftsteller mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran- standen, wo die Nation über den Gehalt und sogar über die
nachdem ſie lange in meiner Verwahrung geweſen, ſind leider im Jahre 1813 verloren und wahrſcheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es ſcheint, als ſolle dergleichen nicht zum litterariſchen Denkmal werden, ſondern heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar gehörte. Nächte lang ſaß ich über dieſen Blättern, ich lernte kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr, was in meiner Ahndung geſchlummert, wurde mir zur wachen Anſchauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu dieſen Schriften gekommen war, und an ſolchem Daſein ſo nahen Antheil gewann.“
„Die Fülle und Kraft perſönlicher Lebensentwicklung wa- ren mit der Schönheit und Erhebung dichteriſchen und philo- ſophiſchen Geiſtlebens in engem Bündniſſe, ſie bewegten ſich beiderſeits in bezugvoller Übereinſtimmung. Schon ſehr früh, weit früher, als irgend eine litterariſche Meinung der Art ſich gebildet hatte, war Rahel von Goethe’s Außerordentlichkeit getroffen, von der Macht ſeines Genius eingenommen und bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus- geſtellt, ihn für den höchſten, den einzigen Dichter erklärt, ihn als ihren Gewährsmann und Beſtätiger in allen Einſich- ten und Urtheilen des Lebens enthuſiaſtiſch angeprieſen. Jetzt erſcheint das ſehr leicht und natürlich, und niemand will Goe- the’s hohes Hervorragen verneinen, denn ſogar im Bemühen ſie einzuſchränken giebt man die Bejahung zu, allein damals, wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftſteller mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran- ſtanden, wo die Nation über den Gehalt und ſogar über die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0035"n="21"/>
nachdem ſie lange in meiner Verwahrung geweſen, ſind leider<lb/>
im Jahre 1813 verloren und wahrſcheinlich vernichtet worden,<lb/>
bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es ſcheint,<lb/>
als ſolle dergleichen nicht zum litterariſchen Denkmal werden,<lb/>ſondern heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar<lb/>
gehörte. Nächte lang ſaß ich über dieſen Blättern, ich lernte<lb/>
kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr,<lb/>
was in meiner Ahndung geſchlummert, wurde mir zur wachen<lb/>
Anſchauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu<lb/>
dieſen Schriften gekommen war, und an ſolchem Daſein ſo<lb/>
nahen Antheil gewann.“</p><lb/><p>„Die Fülle und Kraft perſönlicher Lebensentwicklung wa-<lb/>
ren mit der Schönheit und Erhebung dichteriſchen und philo-<lb/>ſophiſchen Geiſtlebens in engem Bündniſſe, ſie bewegten ſich<lb/>
beiderſeits in bezugvoller Übereinſtimmung. Schon ſehr früh,<lb/>
weit früher, als irgend eine litterariſche Meinung der Art ſich<lb/>
gebildet hatte, war Rahel von Goethe’s Außerordentlichkeit<lb/>
getroffen, von der Macht ſeines Genius eingenommen und<lb/>
bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus-<lb/>
geſtellt, ihn für den höchſten, den einzigen Dichter erklärt,<lb/>
ihn als ihren Gewährsmann und Beſtätiger in allen Einſich-<lb/>
ten und Urtheilen des Lebens enthuſiaſtiſch angeprieſen. Jetzt<lb/>
erſcheint das ſehr leicht und natürlich, und niemand will Goe-<lb/>
the’s hohes Hervorragen verneinen, denn ſogar im Bemühen<lb/>ſie einzuſchränken giebt man die Bejahung zu, allein damals,<lb/>
wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftſteller<lb/>
mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran-<lb/>ſtanden, wo die Nation über den Gehalt und ſogar über die<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[21/0035]
nachdem ſie lange in meiner Verwahrung geweſen, ſind leider
im Jahre 1813 verloren und wahrſcheinlich vernichtet worden,
bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es ſcheint,
als ſolle dergleichen nicht zum litterariſchen Denkmal werden,
ſondern heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar
gehörte. Nächte lang ſaß ich über dieſen Blättern, ich lernte
kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr,
was in meiner Ahndung geſchlummert, wurde mir zur wachen
Anſchauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu
dieſen Schriften gekommen war, und an ſolchem Daſein ſo
nahen Antheil gewann.“
„Die Fülle und Kraft perſönlicher Lebensentwicklung wa-
ren mit der Schönheit und Erhebung dichteriſchen und philo-
ſophiſchen Geiſtlebens in engem Bündniſſe, ſie bewegten ſich
beiderſeits in bezugvoller Übereinſtimmung. Schon ſehr früh,
weit früher, als irgend eine litterariſche Meinung der Art ſich
gebildet hatte, war Rahel von Goethe’s Außerordentlichkeit
getroffen, von der Macht ſeines Genius eingenommen und
bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinaus-
geſtellt, ihn für den höchſten, den einzigen Dichter erklärt,
ihn als ihren Gewährsmann und Beſtätiger in allen Einſich-
ten und Urtheilen des Lebens enthuſiaſtiſch angeprieſen. Jetzt
erſcheint das ſehr leicht und natürlich, und niemand will Goe-
the’s hohes Hervorragen verneinen, denn ſogar im Bemühen
ſie einzuſchränken giebt man die Bejahung zu, allein damals,
wo der künftige Heros noch in der Menge der Schriftſteller
mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voran-
ſtanden, wo die Nation über den Gehalt und ſogar über die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/35>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.