Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich traue und liebe, und bedarf noch rechts und links; aber
das Glück, das Schicksal, Gott, die Götter; wie es einer nen-
nen will: ich nenne es jetzt immer die evenements: die empö-
ren mich ganz! Warum nicht eins zu meiner Gunst; warum
in dem großen, unermeßlichen Tollheitsgewühl nicht Einer toll
zu meinem Vortheil? Auf allen Seiten, auf allen Punkten
sehe ich ja das für Andere; für einen jeden, für eine jede er-
füllt. Ein solches Glück, das mich persönlich erheben sollte,
kann in meinem Lebenskreise sich nicht mehr intensiv, als
große Chance; noch extensiv für meine noch zu lebende Zeit,
ereignen. Ich sehe also der Welt zu. Das Leben, die Natur,
ist für mich da. Berechnen Sie also die lutte in meinem Le-
ben; die großen, die kleinen bittern Momente. Mit dem
schärfsten Bewußtsein über mich selbst. Mit der Meinung,
daß ich eine Königin (keine regierende) oder eine Mutter sein
müßte: erlebe ich, daß ich grade nichts bin. Keine Tochter,
keine Schwester, keine Geliebte, keine Frau, keine Bürgerin
Einmal. Auf solcher Fläche umgetrieben, fand mich Ihr Brief
krank, und wartend auf Entscheidung; nur wo ich athmen
sollte. Früstrirt von Brüdern, Varnhagen und meiner Mutter.
Pläne und Engagements kenne ich aber seit diesem Frühling
nicht mehr: und das ist kein hohles Wort diesmal! darunter
verstehe ich nicht: ich glaube Andern nicht mehr: sondern, ich
halte mich Andern nicht mehr gebunden; ob ich nun von ih-
nen hoffe, mögen Sie beurtheilen. Ein Punkt muß kom-
men, den man dem Schicksale selbst als Ziel ansetzt; einer
muß sein, worauf sich alles Recht gründet. Gegenseitigkeit
der Ansprüche. Es ist geschehen! Ich hielt das Band: allein

Ich traue und liebe, und bedarf noch rechts und links; aber
das Glück, das Schickſal, Gott, die Götter; wie es einer nen-
nen will: ich nenne es jetzt immer die événements: die empö-
ren mich ganz! Warum nicht eins zu meiner Gunſt; warum
in dem großen, unermeßlichen Tollheitsgewühl nicht Einer toll
zu meinem Vortheil? Auf allen Seiten, auf allen Punkten
ſehe ich ja das für Andere; für einen jeden, für eine jede er-
füllt. Ein ſolches Glück, das mich perſönlich erheben ſollte,
kann in meinem Lebenskreiſe ſich nicht mehr intenſiv, als
große Chance; noch extenſiv für meine noch zu lebende Zeit,
ereignen. Ich ſehe alſo der Welt zu. Das Leben, die Natur,
iſt für mich da. Berechnen Sie alſo die lutte in meinem Le-
ben; die großen, die kleinen bittern Momente. Mit dem
ſchärfſten Bewußtſein über mich ſelbſt. Mit der Meinung,
daß ich eine Königin (keine regierende) oder eine Mutter ſein
müßte: erlebe ich, daß ich grade nichts bin. Keine Tochter,
keine Schweſter, keine Geliebte, keine Frau, keine Bürgerin
Einmal. Auf ſolcher Fläche umgetrieben, fand mich Ihr Brief
krank, und wartend auf Entſcheidung; nur wo ich athmen
ſollte. Früſtrirt von Brüdern, Varnhagen und meiner Mutter.
Pläne und Engagements kenne ich aber ſeit dieſem Frühling
nicht mehr: und das iſt kein hohles Wort diesmal! darunter
verſtehe ich nicht: ich glaube Andern nicht mehr: ſondern, ich
halte mich Andern nicht mehr gebunden; ob ich nun von ih-
nen hoffe, mögen Sie beurtheilen. Ein Punkt muß kom-
men, den man dem Schickſale ſelbſt als Ziel anſetzt; einer
muß ſein, worauf ſich alles Recht gründet. Gegenſeitigkeit
der Anſprüche. Es iſt geſchehen! Ich hielt das Band: allein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0450" n="436"/>
Ich traue und liebe, und bedarf noch rechts und links; aber<lb/>
das Glück, das Schick&#x017F;al, Gott, die Götter; wie es einer nen-<lb/>
nen will: ich nenne es jetzt immer die <hi rendition="#aq">événements:</hi> die empö-<lb/>
ren mich <hi rendition="#g">ganz</hi>! Warum nicht eins zu meiner Gun&#x017F;t; warum<lb/>
in dem großen, unermeßlichen Tollheitsgewühl nicht Einer toll<lb/>
zu meinem <hi rendition="#g">Vortheil</hi>? Auf allen Seiten, auf allen Punkten<lb/>
&#x017F;ehe ich ja das für Andere; für einen jeden, für eine jede er-<lb/>
füllt. Ein &#x017F;olches Glück, das <hi rendition="#g">mich</hi> per&#x017F;önlich erheben &#x017F;ollte,<lb/>
kann in <hi rendition="#g">meinem</hi> Lebenskrei&#x017F;e &#x017F;ich nicht mehr inten&#x017F;iv, als<lb/>
große Chance; noch exten&#x017F;iv für meine noch zu lebende Zeit,<lb/>
ereignen. Ich &#x017F;ehe al&#x017F;o der Welt zu. Das Leben, die Natur,<lb/>
i&#x017F;t für mich da. Berechnen Sie al&#x017F;o die <hi rendition="#aq">lutte</hi> in meinem Le-<lb/>
ben; die großen, die kleinen bittern Momente. Mit dem<lb/>
&#x017F;chärf&#x017F;ten Bewußt&#x017F;ein über mich &#x017F;elb&#x017F;t. Mit der Meinung,<lb/>
daß ich eine Königin (keine regierende) oder eine Mutter &#x017F;ein<lb/>
müßte: erlebe ich, daß ich grade <hi rendition="#g">nichts</hi> bin. Keine Tochter,<lb/>
keine Schwe&#x017F;ter, keine Geliebte, keine Frau, keine Bürgerin<lb/>
Einmal. Auf &#x017F;olcher Fläche umgetrieben, fand mich Ihr Brief<lb/>
krank, und wartend auf Ent&#x017F;cheidung; nur <hi rendition="#g">wo</hi> ich athmen<lb/>
&#x017F;ollte. Frü&#x017F;trirt von Brüdern, Varnhagen und meiner Mutter.<lb/>
Pläne und Engagements kenne ich aber &#x017F;eit die&#x017F;em Frühling<lb/>
nicht mehr: und das i&#x017F;t kein hohles Wort diesmal! darunter<lb/>
ver&#x017F;tehe ich nicht: ich glaube Andern nicht mehr: &#x017F;ondern, ich<lb/>
halte mich Andern nicht mehr gebunden; ob ich nun von ih-<lb/>
nen hoffe, mögen Sie beurtheilen. <hi rendition="#g">Ein Punkt</hi> muß kom-<lb/>
men, den man dem Schick&#x017F;ale &#x017F;elb&#x017F;t als Ziel an&#x017F;etzt; einer<lb/>
muß &#x017F;ein, worauf &#x017F;ich alles Recht <hi rendition="#g">gründet</hi>. Gegen&#x017F;eitigkeit<lb/>
der An&#x017F;prüche. Es i&#x017F;t ge&#x017F;chehen! <hi rendition="#g">Ich</hi> hielt das Band: <hi rendition="#g">allein</hi><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[436/0450] Ich traue und liebe, und bedarf noch rechts und links; aber das Glück, das Schickſal, Gott, die Götter; wie es einer nen- nen will: ich nenne es jetzt immer die événements: die empö- ren mich ganz! Warum nicht eins zu meiner Gunſt; warum in dem großen, unermeßlichen Tollheitsgewühl nicht Einer toll zu meinem Vortheil? Auf allen Seiten, auf allen Punkten ſehe ich ja das für Andere; für einen jeden, für eine jede er- füllt. Ein ſolches Glück, das mich perſönlich erheben ſollte, kann in meinem Lebenskreiſe ſich nicht mehr intenſiv, als große Chance; noch extenſiv für meine noch zu lebende Zeit, ereignen. Ich ſehe alſo der Welt zu. Das Leben, die Natur, iſt für mich da. Berechnen Sie alſo die lutte in meinem Le- ben; die großen, die kleinen bittern Momente. Mit dem ſchärfſten Bewußtſein über mich ſelbſt. Mit der Meinung, daß ich eine Königin (keine regierende) oder eine Mutter ſein müßte: erlebe ich, daß ich grade nichts bin. Keine Tochter, keine Schweſter, keine Geliebte, keine Frau, keine Bürgerin Einmal. Auf ſolcher Fläche umgetrieben, fand mich Ihr Brief krank, und wartend auf Entſcheidung; nur wo ich athmen ſollte. Früſtrirt von Brüdern, Varnhagen und meiner Mutter. Pläne und Engagements kenne ich aber ſeit dieſem Frühling nicht mehr: und das iſt kein hohles Wort diesmal! darunter verſtehe ich nicht: ich glaube Andern nicht mehr: ſondern, ich halte mich Andern nicht mehr gebunden; ob ich nun von ih- nen hoffe, mögen Sie beurtheilen. Ein Punkt muß kom- men, den man dem Schickſale ſelbſt als Ziel anſetzt; einer muß ſein, worauf ſich alles Recht gründet. Gegenſeitigkeit der Anſprüche. Es iſt geſchehen! Ich hielt das Band: allein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/450
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/450>, abgerufen am 23.12.2024.