heit, Gemüth, große Münze; so durch. Kommt das reale Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma- ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die Kehle, so erkennen sie sich und dies Leben nicht, wissen sich in nichts zu entschließen, verstehn nichts zu behandeln, machen also, wenn auch nur in bloßer Perplexität des Anstarrens und Wartens, alles verkehrt; befinden sich schlecht dabei, und nennen's Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn sie untergingen, war gewiß eine solche leere Münze für irgend ein großes Lebenselement im Gange.
Berlin, den 4. Januar 1810.
Als ich vorgestern, von R's Briefe wie gespornt, mir sei- nen Verlauf hinschreiben mußte, konnte ich für den Gedanken, den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Menschen nur das Welt- gewirre sehen, wie es dasteht, ohne seine Quellen zu ergrün- den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar- ben -- ich weiß wieder keinen Ausdruck -- zu gewahren, kei- nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie meist immer, ein Bild ein, und hohe Musengestalten sah ich wie verkannte Wohl- thäter und Götter ungesehen umherwandeln: und ich schrieb Musengestalten; dann brauchte ich das Gewirre der Welt, welches ich auch sah, und da schrieb ich Weltwirrwarr; wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber erst ein, daß er, in demselben Gedichte auch eine große Musenge- stalt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht, und verstand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte
heit, Gemüth, große Münze; ſo durch. Kommt das reale Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma- ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die Kehle, ſo erkennen ſie ſich und dies Leben nicht, wiſſen ſich in nichts zu entſchließen, verſtehn nichts zu behandeln, machen alſo, wenn auch nur in bloßer Perplexität des Anſtarrens und Wartens, alles verkehrt; befinden ſich ſchlecht dabei, und nennen’s Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn ſie untergingen, war gewiß eine ſolche leere Münze für irgend ein großes Lebenselement im Gange.
Berlin, den 4. Januar 1810.
Als ich vorgeſtern, von R’s Briefe wie geſpornt, mir ſei- nen Verlauf hinſchreiben mußte, konnte ich für den Gedanken, den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Menſchen nur das Welt- gewirre ſehen, wie es daſteht, ohne ſeine Quellen zu ergrün- den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar- ben — ich weiß wieder keinen Ausdruck — zu gewahren, kei- nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie meiſt immer, ein Bild ein, und hohe Muſengeſtalten ſah ich wie verkannte Wohl- thäter und Götter ungeſehen umherwandeln: und ich ſchrieb Muſengeſtalten; dann brauchte ich das Gewirre der Welt, welches ich auch ſah, und da ſchrieb ich Weltwirrwarr; wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber erſt ein, daß er, in demſelben Gedichte auch eine große Muſenge- ſtalt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht, und verſtand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0473"n="459"/>
heit, Gemüth, große Münze; ſo durch. Kommt das reale<lb/>
Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma-<lb/>
ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die<lb/>
Kehle, ſo erkennen ſie ſich und dies Leben nicht, wiſſen ſich<lb/>
in nichts zu entſchließen, verſtehn nichts zu behandeln, machen<lb/>
alſo, wenn auch nur in bloßer Perplexität des Anſtarrens<lb/>
und Wartens, alles verkehrt; befinden ſich ſchlecht dabei, und<lb/>
nennen’s Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn ſie<lb/>
untergingen, war gewiß eine ſolche leere Münze für irgend<lb/>
ein großes Lebenselement im Gange.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, den 4. Januar 1810.</hi></dateline><lb/><p>Als ich vorgeſtern, von R’s Briefe wie geſpornt, mir ſei-<lb/>
nen Verlauf hinſchreiben mußte, konnte ich für den Gedanken,<lb/>
den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Menſchen nur das Welt-<lb/>
gewirre ſehen, wie es daſteht, ohne ſeine Quellen zu ergrün-<lb/>
den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar-<lb/>
ben — ich weiß wieder keinen Ausdruck — zu gewahren, kei-<lb/>
nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie meiſt immer, ein Bild<lb/>
ein, und hohe Muſengeſtalten ſah ich wie verkannte Wohl-<lb/>
thäter und Götter ungeſehen umherwandeln: und ich ſchrieb<lb/><hirendition="#g">Muſengeſtalten</hi>; dann brauchte ich das Gewirre der Welt,<lb/>
welches ich auch ſah, und da ſchrieb ich <hirendition="#g">Weltwirrwarr</hi>;<lb/>
wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber erſt<lb/>
ein, daß er, in demſelben Gedichte auch eine große Muſenge-<lb/>ſtalt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht,<lb/>
und verſtand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß<lb/>
die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[459/0473]
heit, Gemüth, große Münze; ſo durch. Kommt das reale
Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma-
ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die
Kehle, ſo erkennen ſie ſich und dies Leben nicht, wiſſen ſich
in nichts zu entſchließen, verſtehn nichts zu behandeln, machen
alſo, wenn auch nur in bloßer Perplexität des Anſtarrens
und Wartens, alles verkehrt; befinden ſich ſchlecht dabei, und
nennen’s Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn ſie
untergingen, war gewiß eine ſolche leere Münze für irgend
ein großes Lebenselement im Gange.
Berlin, den 4. Januar 1810.
Als ich vorgeſtern, von R’s Briefe wie geſpornt, mir ſei-
nen Verlauf hinſchreiben mußte, konnte ich für den Gedanken,
den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Menſchen nur das Welt-
gewirre ſehen, wie es daſteht, ohne ſeine Quellen zu ergrün-
den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar-
ben — ich weiß wieder keinen Ausdruck — zu gewahren, kei-
nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie meiſt immer, ein Bild
ein, und hohe Muſengeſtalten ſah ich wie verkannte Wohl-
thäter und Götter ungeſehen umherwandeln: und ich ſchrieb
Muſengeſtalten; dann brauchte ich das Gewirre der Welt,
welches ich auch ſah, und da ſchrieb ich Weltwirrwarr;
wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber erſt
ein, daß er, in demſelben Gedichte auch eine große Muſenge-
ſtalt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht,
und verſtand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß
die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/473>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.