Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Sie anziehen, diese Sonne Sie erwärmen und Ihr Auge lei-
ten. Ich habe den vorzüglichen Geist nicht, den man mir so
verschwenderisch zugesteht, oder vielmehr tausend und tausend
Menschen haben ihn auch. Verstand haben gar die meisten
Leute und hundert Bekannte mehr als ich. Kenntnisse und
Talente habe ich gar nicht. Und doch eine sichere Meinung,
ein treffendes und eigenthümliches Urtheil auch über diese
Dinge. Durch Kraft der Ehrlichkeit: durch den großen durch-
gehenden Zusammenhang aller meiner Fähigkeiten, durch den
ewig unzerstörbaren Zusammenhang und das unauflösliche
Zusammenwirken meines Gemüths und meines Geistes, durch
die ewig redliche Wachsamkeit darauf, durch die unerschrockene
Kühnheit gegen arge Resultate meines Urtheils und meines
Betragens, sobald ich beide für richtig erkenne. Dies ist meine
ganze Grazie, nur die schafft Liebe. Wer mich um etwas an-
dres liebt, der betrügt mich, oder sich, der lügt, oder ist albern.
Darum freut mich nicht allein so selten Äußerung von Liebe,
sondern empört sie mich sogar. Aber wie verloren rinnt mein
ganzes Herz in ein anderes über, wenn ich dieses wirklich durch
das meine gerührt, berührt glauben kann. --

Nehmen Sie um alles, was man in der Welt Freund-
schaft nennen kann, ja diesen Brief gut! Es ist der beste,
den ich Ihnen noch je geschrieben habe. Ich will es Ihnen
erklären. Ich dachte bis heute, bis gestern eigentlich -- bis
Ihr Brief kam -- ich könne Ihnen nie ganz die Wahrheit
sagen, sie sei zu hart, dachte ich, sie beziehe sich zu unmittel-
bar auf Ihr Inneres, auf den lebendigsten Mittelpunkt des-
selben, -- es giebt eigentlich keine andere Wahrheit -- ich

Sie anziehen, dieſe Sonne Sie erwärmen und Ihr Auge lei-
ten. Ich habe den vorzüglichen Geiſt nicht, den man mir ſo
verſchwenderiſch zugeſteht, oder vielmehr tauſend und tauſend
Menſchen haben ihn auch. Verſtand haben gar die meiſten
Leute und hundert Bekannte mehr als ich. Kenntniſſe und
Talente habe ich gar nicht. Und doch eine ſichere Meinung,
ein treffendes und eigenthümliches Urtheil auch über dieſe
Dinge. Durch Kraft der Ehrlichkeit: durch den großen durch-
gehenden Zuſammenhang aller meiner Fähigkeiten, durch den
ewig unzerſtörbaren Zuſammenhang und das unauflösliche
Zuſammenwirken meines Gemüths und meines Geiſtes, durch
die ewig redliche Wachſamkeit darauf, durch die unerſchrockene
Kühnheit gegen arge Reſultate meines Urtheils und meines
Betragens, ſobald ich beide für richtig erkenne. Dies iſt meine
ganze Grazie, nur die ſchafft Liebe. Wer mich um etwas an-
dres liebt, der betrügt mich, oder ſich, der lügt, oder iſt albern.
Darum freut mich nicht allein ſo ſelten Äußerung von Liebe,
ſondern empört ſie mich ſogar. Aber wie verloren rinnt mein
ganzes Herz in ein anderes über, wenn ich dieſes wirklich durch
das meine gerührt, berührt glauben kann. —

Nehmen Sie um alles, was man in der Welt Freund-
ſchaft nennen kann, ja dieſen Brief gut! Es iſt der beſte,
den ich Ihnen noch je geſchrieben habe. Ich will es Ihnen
erklären. Ich dachte bis heute, bis geſtern eigentlich — bis
Ihr Brief kam — ich könne Ihnen nie ganz die Wahrheit
ſagen, ſie ſei zu hart, dachte ich, ſie beziehe ſich zu unmittel-
bar auf Ihr Inneres, auf den lebendigſten Mittelpunkt deſ-
ſelben, — es giebt eigentlich keine andere Wahrheit — ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0496" n="482"/>
Sie anziehen, die&#x017F;e Sonne Sie erwärmen und Ihr Auge lei-<lb/>
ten. Ich <hi rendition="#g">habe</hi> den vorzüglichen Gei&#x017F;t nicht, den man mir &#x017F;o<lb/>
ver&#x017F;chwenderi&#x017F;ch zuge&#x017F;teht, oder vielmehr tau&#x017F;end und tau&#x017F;end<lb/>
Men&#x017F;chen haben ihn auch. Ver&#x017F;tand haben gar die mei&#x017F;ten<lb/>
Leute und hundert Bekannte mehr als ich. Kenntni&#x017F;&#x017F;e und<lb/>
Talente habe ich <hi rendition="#g">gar</hi> nicht. Und doch eine &#x017F;ichere Meinung,<lb/>
ein treffendes und eigenthümliches Urtheil auch über die&#x017F;e<lb/>
Dinge. Durch Kraft der Ehrlichkeit: durch den großen durch-<lb/>
gehenden Zu&#x017F;ammenhang aller meiner Fähigkeiten, durch den<lb/>
ewig unzer&#x017F;törbaren Zu&#x017F;ammenhang und das unauflösliche<lb/>
Zu&#x017F;ammenwirken meines Gemüths und meines Gei&#x017F;tes, durch<lb/>
die ewig redliche Wach&#x017F;amkeit darauf, durch die uner&#x017F;chrockene<lb/>
Kühnheit gegen arge Re&#x017F;ultate meines Urtheils und meines<lb/>
Betragens, &#x017F;obald ich beide für richtig erkenne. Dies i&#x017F;t meine<lb/>
ganze Grazie, nur die &#x017F;chafft Liebe. Wer mich um etwas an-<lb/>
dres liebt, der betrügt mich, oder &#x017F;ich, der lügt, oder i&#x017F;t albern.<lb/>
Darum freut mich nicht allein &#x017F;o &#x017F;elten Äußerung von Liebe,<lb/>
&#x017F;ondern empört &#x017F;ie mich &#x017F;ogar. Aber wie verloren rinnt mein<lb/>
ganzes Herz in ein anderes über, wenn ich die&#x017F;es wirklich durch<lb/>
das meine gerührt, berührt glauben kann. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Nehmen Sie um alles, was man in der Welt Freund-<lb/>
&#x017F;chaft nennen kann, ja die&#x017F;en Brief gut! Es i&#x017F;t der be&#x017F;te,<lb/>
den ich Ihnen noch je ge&#x017F;chrieben habe. Ich will es Ihnen<lb/>
erklären. Ich dachte bis heute, bis ge&#x017F;tern eigentlich &#x2014; bis<lb/>
Ihr Brief kam &#x2014; ich könne Ihnen nie ganz die Wahrheit<lb/>
&#x017F;agen, &#x017F;ie &#x017F;ei zu hart, dachte ich, &#x017F;ie beziehe &#x017F;ich zu unmittel-<lb/>
bar auf Ihr Inneres, auf den lebendig&#x017F;ten Mittelpunkt de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;elben, &#x2014; es giebt eigentlich keine andere Wahrheit &#x2014; ich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[482/0496] Sie anziehen, dieſe Sonne Sie erwärmen und Ihr Auge lei- ten. Ich habe den vorzüglichen Geiſt nicht, den man mir ſo verſchwenderiſch zugeſteht, oder vielmehr tauſend und tauſend Menſchen haben ihn auch. Verſtand haben gar die meiſten Leute und hundert Bekannte mehr als ich. Kenntniſſe und Talente habe ich gar nicht. Und doch eine ſichere Meinung, ein treffendes und eigenthümliches Urtheil auch über dieſe Dinge. Durch Kraft der Ehrlichkeit: durch den großen durch- gehenden Zuſammenhang aller meiner Fähigkeiten, durch den ewig unzerſtörbaren Zuſammenhang und das unauflösliche Zuſammenwirken meines Gemüths und meines Geiſtes, durch die ewig redliche Wachſamkeit darauf, durch die unerſchrockene Kühnheit gegen arge Reſultate meines Urtheils und meines Betragens, ſobald ich beide für richtig erkenne. Dies iſt meine ganze Grazie, nur die ſchafft Liebe. Wer mich um etwas an- dres liebt, der betrügt mich, oder ſich, der lügt, oder iſt albern. Darum freut mich nicht allein ſo ſelten Äußerung von Liebe, ſondern empört ſie mich ſogar. Aber wie verloren rinnt mein ganzes Herz in ein anderes über, wenn ich dieſes wirklich durch das meine gerührt, berührt glauben kann. — Nehmen Sie um alles, was man in der Welt Freund- ſchaft nennen kann, ja dieſen Brief gut! Es iſt der beſte, den ich Ihnen noch je geſchrieben habe. Ich will es Ihnen erklären. Ich dachte bis heute, bis geſtern eigentlich — bis Ihr Brief kam — ich könne Ihnen nie ganz die Wahrheit ſagen, ſie ſei zu hart, dachte ich, ſie beziehe ſich zu unmittel- bar auf Ihr Inneres, auf den lebendigſten Mittelpunkt deſ- ſelben, — es giebt eigentlich keine andere Wahrheit — ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/496
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/496>, abgerufen am 23.12.2024.