Sonntag früh 7 Uhr, den 18. Juli 1813. (18 abscheuliche Zahl.)
Wer tief aufbrausende Wellen eines ganzen Meeres, von sonnenleerem Firmament überdunkelt, beschreiben könnte!
So sehe ich mein Herz unter mir; keine Sonne, keine Hellung des Geistes will hinableuchten, seit ich Sie sah: seit ich Sie hier weiß eigentlich. Jede Leidenschaft; jeder noch so fromm ergriffene Wahn, jeder einseitige Naturhang des Her- zens muß vergehen -- ich kenne alle -- durch Zeit; und zer- stören sie nicht das Herz, das Leben selbst, so geht dies neu hervor; wenn auch nach tausend Jahren.
Was soll ich aber zu meinem Herzen, zu mir selbst, zu meinem Geiste sagen, in dem namen losen Bewußtsein, daß ich die elf Jahr hätte müssen unter Ihren Augen leben; ja! daß es so damit ist, wie mit Seelenaugen, die ich wiederbe- kommen habe; und mir nun vorrechne, daß ich im schwarzen Dunkel die ganze Zeit mich allein gequält habe. -- Glauben Sie an keine Übertreibung! -- Sie sollten von meinem Leben wissen, alles gesehen haben: wer giebt Freuden und Schmerz, Gedanken und Ereignisse, frisch aus der Seele gebrochen, einer so langen Zeit, zurück. Wie ein Irrender ging ich gestern unter den wohlbekannten, mir freundlichen Menschen umher: wie über meinem Haupte gingen ihre Worte an mir vorbei; ich antwortete wie sonst, sie waren zufrieden: ich meinte, es antwortete ein Anderer für mich, aus göttlicher Zaubergnade. Habe ich doch gar nicht gewußt, daß solche Schmerzen in
An Gentz, in Prag.
Sonntag früh 7 Uhr, den 18. Juli 1813. (18 abſcheuliche Zahl.)
Wer tief aufbrauſende Wellen eines ganzen Meeres, von ſonnenleerem Firmament überdunkelt, beſchreiben könnte!
So ſehe ich mein Herz unter mir; keine Sonne, keine Hellung des Geiſtes will hinableuchten, ſeit ich Sie ſah: ſeit ich Sie hier weiß eigentlich. Jede Leidenſchaft; jeder noch ſo fromm ergriffene Wahn, jeder einſeitige Naturhang des Her- zens muß vergehen — ich kenne alle — durch Zeit; und zer- ſtören ſie nicht das Herz, das Leben ſelbſt, ſo geht dies neu hervor; wenn auch nach tauſend Jahren.
Was ſoll ich aber zu meinem Herzen, zu mir ſelbſt, zu meinem Geiſte ſagen, in dem namen loſen Bewußtſein, daß ich die elf Jahr hätte müſſen unter Ihren Augen leben; ja! daß es ſo damit iſt, wie mit Seelenaugen, die ich wiederbe- kommen habe; und mir nun vorrechne, daß ich im ſchwarzen Dunkel die ganze Zeit mich allein gequält habe. — Glauben Sie an keine Übertreibung! — Sie ſollten von meinem Leben wiſſen, alles geſehen haben: wer giebt Freuden und Schmerz, Gedanken und Ereigniſſe, friſch aus der Seele gebrochen, einer ſo langen Zeit, zurück. Wie ein Irrender ging ich geſtern unter den wohlbekannten, mir freundlichen Menſchen umher: wie über meinem Haupte gingen ihre Worte an mir vorbei; ich antwortete wie ſonſt, ſie waren zufrieden: ich meinte, es antwortete ein Anderer für mich, aus göttlicher Zaubergnade. Habe ich doch gar nicht gewußt, daß ſolche Schmerzen in
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0113"n="105"/><divn="2"><head>An Gentz, in Prag.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Sonntag früh 7 Uhr, den 18. Juli 1813.<lb/>
(18 abſcheuliche Zahl.)</hi></dateline><lb/><p>Wer tief aufbrauſende Wellen eines ganzen Meeres, von<lb/>ſonnenleerem Firmament überdunkelt, beſchreiben könnte!</p><lb/><p>So ſehe ich mein Herz unter mir; keine Sonne, keine<lb/>
Hellung des Geiſtes will hinableuchten, ſeit ich Sie ſah: ſeit<lb/>
ich Sie hier weiß eigentlich. Jede Leidenſchaft; jeder noch ſo<lb/>
fromm ergriffene Wahn, jeder einſeitige Naturhang des Her-<lb/>
zens muß vergehen — ich kenne alle — durch Zeit; und zer-<lb/>ſtören ſie nicht das Herz, das Leben ſelbſt, ſo geht dies neu<lb/>
hervor; wenn auch nach tauſend Jahren.</p><lb/><p>Was ſoll ich aber zu meinem Herzen, zu mir ſelbſt, zu<lb/>
meinem Geiſte ſagen, in dem namen <hirendition="#g">loſen</hi> Bewußtſein, daß<lb/>
ich die elf Jahr hätte müſſen unter Ihren Augen leben; ja!<lb/>
daß es ſo damit iſt, wie mit Seelenaugen, die ich wiederbe-<lb/>
kommen habe; und mir nun vorrechne, daß ich im ſchwarzen<lb/>
Dunkel die ganze Zeit mich allein gequält habe. — Glauben<lb/>
Sie an keine Übertreibung! — Sie ſollten von meinem Leben<lb/>
wiſſen, alles geſehen haben: wer giebt Freuden und Schmerz,<lb/>
Gedanken und Ereigniſſe, friſch aus der Seele gebrochen, einer<lb/>ſo langen Zeit, zurück. Wie ein Irrender ging ich geſtern<lb/>
unter den wohlbekannten, mir freundlichen Menſchen umher:<lb/>
wie über meinem Haupte gingen ihre Worte an mir vorbei;<lb/>
ich antwortete wie ſonſt, ſie waren zufrieden: ich meinte, es<lb/>
antwortete ein Anderer für mich, aus göttlicher Zaubergnade.<lb/>
Habe ich doch gar nicht gewußt, daß ſolche Schmerzen in<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[105/0113]
An Gentz, in Prag.
Sonntag früh 7 Uhr, den 18. Juli 1813.
(18 abſcheuliche Zahl.)
Wer tief aufbrauſende Wellen eines ganzen Meeres, von
ſonnenleerem Firmament überdunkelt, beſchreiben könnte!
So ſehe ich mein Herz unter mir; keine Sonne, keine
Hellung des Geiſtes will hinableuchten, ſeit ich Sie ſah: ſeit
ich Sie hier weiß eigentlich. Jede Leidenſchaft; jeder noch ſo
fromm ergriffene Wahn, jeder einſeitige Naturhang des Her-
zens muß vergehen — ich kenne alle — durch Zeit; und zer-
ſtören ſie nicht das Herz, das Leben ſelbſt, ſo geht dies neu
hervor; wenn auch nach tauſend Jahren.
Was ſoll ich aber zu meinem Herzen, zu mir ſelbſt, zu
meinem Geiſte ſagen, in dem namen loſen Bewußtſein, daß
ich die elf Jahr hätte müſſen unter Ihren Augen leben; ja!
daß es ſo damit iſt, wie mit Seelenaugen, die ich wiederbe-
kommen habe; und mir nun vorrechne, daß ich im ſchwarzen
Dunkel die ganze Zeit mich allein gequält habe. — Glauben
Sie an keine Übertreibung! — Sie ſollten von meinem Leben
wiſſen, alles geſehen haben: wer giebt Freuden und Schmerz,
Gedanken und Ereigniſſe, friſch aus der Seele gebrochen, einer
ſo langen Zeit, zurück. Wie ein Irrender ging ich geſtern
unter den wohlbekannten, mir freundlichen Menſchen umher:
wie über meinem Haupte gingen ihre Worte an mir vorbei;
ich antwortete wie ſonſt, ſie waren zufrieden: ich meinte, es
antwortete ein Anderer für mich, aus göttlicher Zaubergnade.
Habe ich doch gar nicht gewußt, daß ſolche Schmerzen in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/113>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.