Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

auch durch mein Gemüth; und doch war mir nicht übel, so
innerlich und stark bewegt zu sein, als ich noch etwa ein paar
Stunden so zu Hause war, die Nacht über (des Schlafes un-
erachtet) so blieb, aber diesen Morgen einen plötzlichen Ge-
müthswechsel erleben mußte, durch deinen Brief. Deinen
vom 28. März. Es thut mir unaussprechlich leid, jetzt nicht
zu Hause zu sein! Und das diesmal nicht meintwegen, son-
dern deintwegen. Nicht, daß ich nicht weiß, daß, indem ich
dein Schreiben lese, du schon zwanzigmal gefaßt bist, und der
Sache, und der Überraschung face machst. Aber es ist besser,
seine Trabanten in solcher Zeit, wo noch neunundneunzig
solche Momente kommen werden, um sich zu haben: hundert-
mal eine Sache wiederholen zu können, jeden Einfall mit-
theilen zu können, jeden dummen Plan, Hoffnung, Besorgniß,
Ärger, Ein- und Ansicht: und gewiß zu wissen, die kennen
mich, finden nichts dumm, das Kluge klug; und sagen mir
auch jede Regung, jeden Einfall. Und man überlegt und lebt,
und zerstreut sich wirklich besser. Ich wußte, man würde sich
da, wo man noch hofft, sehr erschrecken; und diese Spannung,
dies zu erwarten, hab' ich ganz für mich ausgestanden. Aber,
in dieser Zeit! geb ich zweihundert Thaler Kourant weg,
wenn ich dich jetzt auf zwei Tage hier haben könnte. Erstlich,
ist es der Feder nicht anzutrauen: zweitens, müßte man in
Details gehen, die sie nicht leisten kann, um Belag für den
Ausdruck der schärfsten Überzeugung mitzugeben: "So geht
es nicht." Das dissoluteste, auseinandergesprengteste, falsch-
fleißige, und ohne Beispiel müssige Leben; wo einem jeden der
Gesichtspunkt fehlt, ja, und der vergeht, den er hatte: dabei

auch durch mein Gemüth; und doch war mir nicht übel, ſo
innerlich und ſtark bewegt zu ſein, als ich noch etwa ein paar
Stunden ſo zu Hauſe war, die Nacht über (des Schlafes un-
erachtet) ſo blieb, aber dieſen Morgen einen plötzlichen Ge-
müthswechſel erleben mußte, durch deinen Brief. Deinen
vom 28. März. Es thut mir unausſprechlich leid, jetzt nicht
zu Hauſe zu ſein! Und das diesmal nicht meintwegen, ſon-
dern deintwegen. Nicht, daß ich nicht weiß, daß, indem ich
dein Schreiben leſe, du ſchon zwanzigmal gefaßt biſt, und der
Sache, und der Überraſchung face machſt. Aber es iſt beſſer,
ſeine Trabanten in ſolcher Zeit, wo noch neunundneunzig
ſolche Momente kommen werden, um ſich zu haben: hundert-
mal eine Sache wiederholen zu können, jeden Einfall mit-
theilen zu können, jeden dummen Plan, Hoffnung, Beſorgniß,
Ärger, Ein- und Anſicht: und gewiß zu wiſſen, die kennen
mich, finden nichts dumm, das Kluge klug; und ſagen mir
auch jede Regung, jeden Einfall. Und man überlegt und lebt,
und zerſtreut ſich wirklich beſſer. Ich wußte, man würde ſich
da, wo man noch hofft, ſehr erſchrecken; und dieſe Spannung,
dies zu erwarten, hab’ ich ganz für mich ausgeſtanden. Aber,
in dieſer Zeit! geb ich zweihundert Thaler Kourant weg,
wenn ich dich jetzt auf zwei Tage hier haben könnte. Erſtlich,
iſt es der Feder nicht anzutrauen: zweitens, müßte man in
Details gehen, die ſie nicht leiſten kann, um Belag für den
Ausdruck der ſchärfſten Überzeugung mitzugeben: „So geht
es nicht.“ Das diſſoluteſte, auseinandergeſprengteſte, falſch-
fleißige, und ohne Beiſpiel müſſige Leben; wo einem jeden der
Geſichtspunkt fehlt, ja, und der vergeht, den er hatte: dabei

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0284" n="276"/>
auch durch mein Gemüth; und doch war mir nicht übel, &#x017F;o<lb/>
innerlich und &#x017F;tark bewegt zu &#x017F;ein, als ich noch etwa ein paar<lb/>
Stunden &#x017F;o zu Hau&#x017F;e war, die Nacht über (des Schlafes un-<lb/>
erachtet) &#x017F;o blieb, aber die&#x017F;en Morgen einen plötzlichen Ge-<lb/>
müthswech&#x017F;el erleben mußte, durch <hi rendition="#g">deinen</hi> Brief. Deinen<lb/>
vom 28. März. Es thut mir unaus&#x017F;prechlich leid, jetzt nicht<lb/>
zu Hau&#x017F;e zu &#x017F;ein! Und das diesmal nicht meintwegen, &#x017F;on-<lb/>
dern deintwegen. Nicht, daß ich nicht weiß, daß, indem ich<lb/>
dein Schreiben le&#x017F;e, du &#x017F;chon zwanzigmal gefaßt bi&#x017F;t, und der<lb/>
Sache, und der Überra&#x017F;chung <hi rendition="#aq">face</hi> mach&#x017F;t. Aber es i&#x017F;t be&#x017F;&#x017F;er,<lb/>
&#x017F;eine Trabanten in &#x017F;olcher Zeit, wo noch neunundneunzig<lb/>
&#x017F;olche Momente kommen werden, um &#x017F;ich zu haben: <hi rendition="#g">hundert</hi>-<lb/>
mal <hi rendition="#g">eine</hi> Sache wiederholen zu können, jeden Einfall mit-<lb/>
theilen zu können, jeden dummen Plan, Hoffnung, Be&#x017F;orgniß,<lb/>
Ärger, Ein- und An&#x017F;icht: und gewiß zu wi&#x017F;&#x017F;en, die kennen<lb/>
mich, finden <hi rendition="#g">nichts</hi> dumm, das Kluge klug; und &#x017F;agen mir<lb/>
auch jede Regung, jeden Einfall. Und man überlegt und lebt,<lb/>
und zer&#x017F;treut &#x017F;ich wirklich be&#x017F;&#x017F;er. Ich <hi rendition="#g">wußte</hi>, man würde &#x017F;ich<lb/>
da, wo man noch hofft, &#x017F;ehr er&#x017F;chrecken; und die&#x017F;e Spannung,<lb/>
dies zu erwarten, hab&#x2019; ich ganz für mich ausge&#x017F;tanden. Aber,<lb/><hi rendition="#g">in</hi> die&#x017F;er <hi rendition="#g">Zeit</hi>! geb ich <hi rendition="#g">zweihundert</hi> Thaler Kourant weg,<lb/>
wenn ich dich jetzt auf zwei Tage hier haben könnte. Er&#x017F;tlich,<lb/>
i&#x017F;t es der Feder nicht anzutrauen: zweitens, müßte man in<lb/>
Details gehen, die &#x017F;ie nicht lei&#x017F;ten kann, um Belag für den<lb/>
Ausdruck der &#x017F;chärf&#x017F;ten Überzeugung mitzugeben: &#x201E;So geht<lb/>
es <hi rendition="#g">nicht</hi>.&#x201C; Das di&#x017F;&#x017F;olute&#x017F;te, auseinanderge&#x017F;prengte&#x017F;te, <hi rendition="#g">fal&#x017F;ch</hi>-<lb/>
fleißige, und ohne Bei&#x017F;piel mü&#x017F;&#x017F;ige Leben; wo einem jeden der<lb/>
Ge&#x017F;ichtspunkt fehlt, ja, und der vergeht, den er hatte: dabei<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0284] auch durch mein Gemüth; und doch war mir nicht übel, ſo innerlich und ſtark bewegt zu ſein, als ich noch etwa ein paar Stunden ſo zu Hauſe war, die Nacht über (des Schlafes un- erachtet) ſo blieb, aber dieſen Morgen einen plötzlichen Ge- müthswechſel erleben mußte, durch deinen Brief. Deinen vom 28. März. Es thut mir unausſprechlich leid, jetzt nicht zu Hauſe zu ſein! Und das diesmal nicht meintwegen, ſon- dern deintwegen. Nicht, daß ich nicht weiß, daß, indem ich dein Schreiben leſe, du ſchon zwanzigmal gefaßt biſt, und der Sache, und der Überraſchung face machſt. Aber es iſt beſſer, ſeine Trabanten in ſolcher Zeit, wo noch neunundneunzig ſolche Momente kommen werden, um ſich zu haben: hundert- mal eine Sache wiederholen zu können, jeden Einfall mit- theilen zu können, jeden dummen Plan, Hoffnung, Beſorgniß, Ärger, Ein- und Anſicht: und gewiß zu wiſſen, die kennen mich, finden nichts dumm, das Kluge klug; und ſagen mir auch jede Regung, jeden Einfall. Und man überlegt und lebt, und zerſtreut ſich wirklich beſſer. Ich wußte, man würde ſich da, wo man noch hofft, ſehr erſchrecken; und dieſe Spannung, dies zu erwarten, hab’ ich ganz für mich ausgeſtanden. Aber, in dieſer Zeit! geb ich zweihundert Thaler Kourant weg, wenn ich dich jetzt auf zwei Tage hier haben könnte. Erſtlich, iſt es der Feder nicht anzutrauen: zweitens, müßte man in Details gehen, die ſie nicht leiſten kann, um Belag für den Ausdruck der ſchärfſten Überzeugung mitzugeben: „So geht es nicht.“ Das diſſoluteſte, auseinandergeſprengteſte, falſch- fleißige, und ohne Beiſpiel müſſige Leben; wo einem jeden der Geſichtspunkt fehlt, ja, und der vergeht, den er hatte: dabei

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/284
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/284>, abgerufen am 21.11.2024.