Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

bildete oder doch neugestellte Worte freuten mich in Ihrem
Aufsatz! die ich eben so gebraucht hatte: ich zeigte sie V. gleich.
Adieu, lieber Freund, tausend schöne Grüße an Mad. Troxler
in's Grüne hinein!

R.



-- So lebe ich immer provisorisch, und schlecht in allen
Einrichtungen, und in Hinsicht des Umgangs. Doch bin ich
seit einigen Tagen über alles dies in mir sehr revolutionirt!
d. h. beruhigt: denn in einem Zimmer sitze ich auch: ohne
Angst
. Ist gutes Wetter, sehe ich und geh' ich in's Grüne.
Was ich will, und brauche, hätte ich vor der Hand nirgends:
und was mich so sehr peinigte, daß ich mein jetziges Leben
nach meiner Vergangenheit, d. h. mehr noch nach den Wün-
schen derselben, als nach dem wirklichen Leben, was ich in ihr
führte, einrichten wollte, dahinter bin ich endlich, und plötzlich
gekommen, das muß ich aufgeben. Es geht nicht. Also
sitz' ich und sehe meinem eigenen Leben zu; gewissermaßen.
Ich lebe es nicht: nur ganz innerlich. Ich weiß noch, wozu
ich fähig war; und diese Fähigkeit müssen wir doch scheinbar,
für die eigentlichste Bestimmung halten. Aber es ist nicht so!
Wie Blüthen, und wie die meisten sogar, fallen wir, vom gro-
ßen unbekannten Winde ab: obgleich wir hätten Frucht wer-
den können. Die Menschenblüthe fühlt die verletzende Vernich-
tung stark; hingegen kann sie auch über sich selbst reflektiren:
und das thue ich. Der Mensch besteht nur aus seinem Ka-
rakter: das ist er, und das ist sein Schicksal; Karakter ist nur
Muth: Muth, der unsern einmaligen Gaben beigegeben ist;

bildete oder doch neugeſtellte Worte freuten mich in Ihrem
Aufſatz! die ich eben ſo gebraucht hatte: ich zeigte ſie V. gleich.
Adieu, lieber Freund, tauſend ſchöne Grüße an Mad. Troxler
in’s Grüne hinein!

R.



— So lebe ich immer proviſoriſch, und ſchlecht in allen
Einrichtungen, und in Hinſicht des Umgangs. Doch bin ich
ſeit einigen Tagen über alles dies in mir ſehr revolutionirt!
d. h. beruhigt: denn in einem Zimmer ſitze ich auch: ohne
Angſt
. Iſt gutes Wetter, ſehe ich und geh’ ich in’s Grüne.
Was ich will, und brauche, hätte ich vor der Hand nirgends:
und was mich ſo ſehr peinigte, daß ich mein jetziges Leben
nach meiner Vergangenheit, d. h. mehr noch nach den Wün-
ſchen derſelben, als nach dem wirklichen Leben, was ich in ihr
führte, einrichten wollte, dahinter bin ich endlich, und plötzlich
gekommen, das muß ich aufgeben. Es geht nicht. Alſo
ſitz’ ich und ſehe meinem eigenen Leben zu; gewiſſermaßen.
Ich lebe es nicht: nur ganz innerlich. Ich weiß noch, wozu
ich fähig war; und dieſe Fähigkeit müſſen wir doch ſcheinbar,
für die eigentlichſte Beſtimmung halten. Aber es iſt nicht ſo!
Wie Blüthen, und wie die meiſten ſogar, fallen wir, vom gro-
ßen unbekannten Winde ab: obgleich wir hätten Frucht wer-
den können. Die Menſchenblüthe fühlt die verletzende Vernich-
tung ſtark; hingegen kann ſie auch über ſich ſelbſt reflektiren:
und das thue ich. Der Menſch beſteht nur aus ſeinem Ka-
rakter: das iſt er, und das iſt ſein Schickſal; Karakter iſt nur
Muth: Muth, der unſern einmaligen Gaben beigegeben iſt;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0415" n="407"/>
bildete oder doch neuge&#x017F;tellte Worte freuten mich in Ihrem<lb/>
Auf&#x017F;atz! die ich eben &#x017F;o gebraucht hatte: ich zeigte &#x017F;ie V. gleich.<lb/>
Adieu, lieber Freund, tau&#x017F;end &#x017F;chöne Grüße an Mad. Troxler<lb/>
in&#x2019;s Grüne hinein!</p>
            <closer>
              <salute> <hi rendition="#et">R.</hi> </salute>
            </closer>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Frankfurt a. M. Mittwoch den 26. Juni 1816.</hi> </dateline><lb/>
            <p>&#x2014; So lebe ich immer provi&#x017F;ori&#x017F;ch, und &#x017F;chlecht in allen<lb/>
Einrichtungen, und in Hin&#x017F;icht des Umgangs. Doch bin ich<lb/>
&#x017F;eit einigen Tagen über alles dies in mir &#x017F;ehr revolutionirt!<lb/>
d. h. beruhigt: denn in einem Zimmer &#x017F;itze ich auch: <hi rendition="#g">ohne<lb/>
Ang&#x017F;t</hi>. I&#x017F;t gutes Wetter, &#x017F;ehe ich und geh&#x2019; ich in&#x2019;s Grüne.<lb/>
Was ich will, und <hi rendition="#g">brauche</hi>, hätte ich vor der Hand nirgends:<lb/>
und was mich &#x017F;o <hi rendition="#g">&#x017F;ehr</hi> peinigte, daß ich mein jetziges Leben<lb/>
nach meiner Vergangenheit, d. h. mehr noch nach den Wün-<lb/>
&#x017F;chen der&#x017F;elben, als nach dem wirklichen Leben, was ich in ihr<lb/>
führte, einrichten wollte, dahinter bin ich endlich, und plötzlich<lb/>
gekommen, das muß ich aufgeben. <hi rendition="#g">Es geht nicht</hi>. Al&#x017F;o<lb/>
&#x017F;itz&#x2019; ich und &#x017F;ehe meinem eigenen Leben zu; gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen.<lb/>
Ich lebe es nicht: nur <hi rendition="#g">ganz</hi> innerlich. Ich weiß noch, wozu<lb/>
ich fähig war; und die&#x017F;e Fähigkeit mü&#x017F;&#x017F;en wir doch &#x017F;cheinbar,<lb/>
für die eigentlich&#x017F;te Be&#x017F;timmung halten. Aber es i&#x017F;t nicht &#x017F;o!<lb/>
Wie Blüthen, und wie die mei&#x017F;ten &#x017F;ogar, fallen wir, vom gro-<lb/>
ßen unbekannten Winde ab: obgleich wir hätten Frucht wer-<lb/>
den können. Die Men&#x017F;chenblüthe fühlt die verletzende Vernich-<lb/>
tung &#x017F;tark; hingegen kann &#x017F;ie auch über &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t reflektiren:<lb/>
und das thue ich. Der Men&#x017F;ch be&#x017F;teht nur aus &#x017F;einem Ka-<lb/>
rakter: das i&#x017F;t er, und das i&#x017F;t &#x017F;ein Schick&#x017F;al; Karakter i&#x017F;t nur<lb/>
Muth: Muth, der un&#x017F;ern einmaligen Gaben beigegeben i&#x017F;t;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[407/0415] bildete oder doch neugeſtellte Worte freuten mich in Ihrem Aufſatz! die ich eben ſo gebraucht hatte: ich zeigte ſie V. gleich. Adieu, lieber Freund, tauſend ſchöne Grüße an Mad. Troxler in’s Grüne hinein! R. Frankfurt a. M. Mittwoch den 26. Juni 1816. — So lebe ich immer proviſoriſch, und ſchlecht in allen Einrichtungen, und in Hinſicht des Umgangs. Doch bin ich ſeit einigen Tagen über alles dies in mir ſehr revolutionirt! d. h. beruhigt: denn in einem Zimmer ſitze ich auch: ohne Angſt. Iſt gutes Wetter, ſehe ich und geh’ ich in’s Grüne. Was ich will, und brauche, hätte ich vor der Hand nirgends: und was mich ſo ſehr peinigte, daß ich mein jetziges Leben nach meiner Vergangenheit, d. h. mehr noch nach den Wün- ſchen derſelben, als nach dem wirklichen Leben, was ich in ihr führte, einrichten wollte, dahinter bin ich endlich, und plötzlich gekommen, das muß ich aufgeben. Es geht nicht. Alſo ſitz’ ich und ſehe meinem eigenen Leben zu; gewiſſermaßen. Ich lebe es nicht: nur ganz innerlich. Ich weiß noch, wozu ich fähig war; und dieſe Fähigkeit müſſen wir doch ſcheinbar, für die eigentlichſte Beſtimmung halten. Aber es iſt nicht ſo! Wie Blüthen, und wie die meiſten ſogar, fallen wir, vom gro- ßen unbekannten Winde ab: obgleich wir hätten Frucht wer- den können. Die Menſchenblüthe fühlt die verletzende Vernich- tung ſtark; hingegen kann ſie auch über ſich ſelbſt reflektiren: und das thue ich. Der Menſch beſteht nur aus ſeinem Ka- rakter: das iſt er, und das iſt ſein Schickſal; Karakter iſt nur Muth: Muth, der unſern einmaligen Gaben beigegeben iſt;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/415
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/415>, abgerufen am 28.11.2024.