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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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nicht fortkönnen. Sehen ist, sich sehen, ist das Wesentliche!
So lange man noch lebt, und sich erreichen kann! Ist es
also nicht möglich? Alle Tage meines Lebens denke ich an
den ewiggeliebten Marwitz! Bei Musik, bei Wetter; seine
zwei tiefsten Studiumspunkte. Bei freien Gedanken! bei den
kleinsten Ereignissen! Millionen Dinge erinnern mich
an ihn: nach dem langen, steten Zusammensein. Eben als
Ihr Brief kam, hatte ich wieder Dore, mein Mädchen, an
ihn und Sie erinnert! Ich sehe sein Gesicht, seine Farbe,
seine Mienen, sein Blaues in den Augen, seinen Haarwuchs,
seine Hände. Er lebt ganz bei mir, und doch wein' ich
eben jetzt. Er war so lieb! so wahr. Alles, was wahr war,
konnte man ihm sagen: er lächelte nur, wenn er's fand; und
wenn es ihm auch, wie er bisher war, ganz widersprach.
Ich hab' es erlebt. Kunst, alles Kunstmäßige beflügelte ihn;
er verstand's gleich: weil er eine Seele für die ganze Na-
tur, für all ihr Wahrheitssein hatte. Wo ist er? kein Schrei
dringt zu ihm! Sagen Sie mir nichts! Auch ich weiß, er ist
noch da. Und was hätte er noch hin- und herwanken sollen.
Er hat gelebt. Adieu! Sie und er. Viel denk' ich Sie beide
zusammen. Sie liebten ihn: ich wußte es! drum konnt' ich
gegen Sie mich über ihn empören. Wir liebten ihn in dem
eben so lächelnd. Das Resüme, welches ich über ihn finde,
ist mir immer ein Lächeln. So lieb' ich seine Seele zuletzt
immer. Adieu! Schreiben Sie mir auch über ihn. Ich rede
noch mit ihm, zu ihm: täglich. -- Ich habe Steffens Buch
gelesen. Wie kann ein solcher Mann, mit solchen Gedan-
ken; mit den Einfällen, auch willkürlich sein! Es freut mich,

nicht fortkönnen. Sehen iſt, ſich ſehen, iſt das Weſentliche!
So lange man noch lebt, und ſich erreichen kann! Iſt es
alſo nicht möglich? Alle Tage meines Lebens denke ich an
den ewiggeliebten Marwitz! Bei Muſik, bei Wetter; ſeine
zwei tiefſten Studiumspunkte. Bei freien Gedanken! bei den
kleinſten Ereigniſſen! Millionen Dinge erinnern mich
an ihn: nach dem langen, ſteten Zuſammenſein. Eben als
Ihr Brief kam, hatte ich wieder Dore, mein Mädchen, an
ihn und Sie erinnert! Ich ſehe ſein Geſicht, ſeine Farbe,
ſeine Mienen, ſein Blaues in den Augen, ſeinen Haarwuchs,
ſeine Hände. Er lebt ganz bei mir, und doch wein’ ich
eben jetzt. Er war ſo lieb! ſo wahr. Alles, was wahr war,
konnte man ihm ſagen: er lächelte nur, wenn er’s fand; und
wenn es ihm auch, wie er bisher war, ganz widerſprach.
Ich hab’ es erlebt. Kunſt, alles Kunſtmäßige beflügelte ihn;
er verſtand’s gleich: weil er eine Seele für die ganze Na-
tur, für all ihr Wahrheitsſein hatte. Wo iſt er? kein Schrei
dringt zu ihm! Sagen Sie mir nichts! Auch ich weiß, er iſt
noch da. Und was hätte er noch hin- und herwanken ſollen.
Er hat gelebt. Adieu! Sie und er. Viel denk’ ich Sie beide
zuſammen. Sie liebten ihn: ich wußte es! drum konnt’ ich
gegen Sie mich über ihn empören. Wir liebten ihn in dem
eben ſo lächelnd. Das Reſümé, welches ich über ihn finde,
iſt mir immer ein Lächeln. So lieb’ ich ſeine Seele zuletzt
immer. Adieu! Schreiben Sie mir auch über ihn. Ich rede
noch mit ihm, zu ihm: täglich. — Ich habe Steffens Buch
geleſen. Wie kann ein ſolcher Mann, mit ſolchen Gedan-
ken; mit den Einfällen, auch willkürlich ſein! Es freut mich,

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[450/0458] nicht fortkönnen. Sehen iſt, ſich ſehen, iſt das Weſentliche! So lange man noch lebt, und ſich erreichen kann! Iſt es alſo nicht möglich? Alle Tage meines Lebens denke ich an den ewiggeliebten Marwitz! Bei Muſik, bei Wetter; ſeine zwei tiefſten Studiumspunkte. Bei freien Gedanken! bei den kleinſten Ereigniſſen! Millionen Dinge erinnern mich an ihn: nach dem langen, ſteten Zuſammenſein. Eben als Ihr Brief kam, hatte ich wieder Dore, mein Mädchen, an ihn und Sie erinnert! Ich ſehe ſein Geſicht, ſeine Farbe, ſeine Mienen, ſein Blaues in den Augen, ſeinen Haarwuchs, ſeine Hände. Er lebt ganz bei mir, und doch wein’ ich eben jetzt. Er war ſo lieb! ſo wahr. Alles, was wahr war, konnte man ihm ſagen: er lächelte nur, wenn er’s fand; und wenn es ihm auch, wie er bisher war, ganz widerſprach. Ich hab’ es erlebt. Kunſt, alles Kunſtmäßige beflügelte ihn; er verſtand’s gleich: weil er eine Seele für die ganze Na- tur, für all ihr Wahrheitsſein hatte. Wo iſt er? kein Schrei dringt zu ihm! Sagen Sie mir nichts! Auch ich weiß, er iſt noch da. Und was hätte er noch hin- und herwanken ſollen. Er hat gelebt. Adieu! Sie und er. Viel denk’ ich Sie beide zuſammen. Sie liebten ihn: ich wußte es! drum konnt’ ich gegen Sie mich über ihn empören. Wir liebten ihn in dem eben ſo lächelnd. Das Reſümé, welches ich über ihn finde, iſt mir immer ein Lächeln. So lieb’ ich ſeine Seele zuletzt immer. Adieu! Schreiben Sie mir auch über ihn. Ich rede noch mit ihm, zu ihm: täglich. — Ich habe Steffens Buch geleſen. Wie kann ein ſolcher Mann, mit ſolchen Gedan- ken; mit den Einfällen, auch willkürlich ſein! Es freut mich,

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/458>, abgerufen am 22.11.2024.