mir anbietet. In der Art hab' ich mir aber beinah alle Ta- lente auch der andern Menschen erklärt: meist ist jedes Talent nur eine Umgränzung einiger in einander greifenden Gaben, die grade die Nachbargaben ausschließen, oder deren Mangel voraussetzen, und von dem begründet werden; das hab' ich schon oft ergrübelt. Findet sich irgend in einer Seele ein gan- zes Konzert, ein vollständiger großer Kreis von Talenten, wo keins das andere durch dessen Ausschließung bedingt; und be- lebt ein reges, empfindliches, gesundes Herz diese Fertigkeiten; wohnt eine lebendige Überzeugung in solchem Geiste, dann ist das Genie fertig. Dann lieb' ich es mit leidenschaftlicher, glücklicher Bewunderung! Wen ich als Autor so liebe, das wissen Sie. Eh ich Ihren Brief gestern erhielt, im Nachmit- tag, sprach ich erst von dem großen, einzigen Einfluß, den Lokale auf mich üben; das was mich umgiebt, beherrscht mich meist ganz, unwiderstehlich: kein Unglück, nichts widersteht dem ganz, Kein Glück, keiner Art, wäre für mich genießbar, könnte mir den Seelenzustand ganz bereiten, dessen meine Seele bedarf, um es ruhig in sich wirken zu lassen, wenn ich in einem mir verhaßten, mir widersprechenden Lokal, in solcher Stadt, solcher Gegend bin. Kein Mensch ist empfindlicher für solche Dinge: hat sie zeitlebens so ausgesponnen, zur Deut- lichkeit gebracht, so davon gelitten! Sie können also denken, wie erwünscht mir Ihr Brief kam; wie balsamisch er auf mich wirkte! Wie ein gourmand gerne von schönen Speisen hört; so bin ich in meiner leckeren Gierigkeit dahin gekommen, schon zufrieden zu werden, wenn nur Andere recht schön wohnen: besonders wenn es nun Freunde sind; und in einer Verfas-
mir anbietet. In der Art hab’ ich mir aber beinah alle Ta- lente auch der andern Menſchen erklärt: meiſt iſt jedes Talent nur eine Umgränzung einiger in einander greifenden Gaben, die grade die Nachbargaben ausſchließen, oder deren Mangel vorausſetzen, und von dem begründet werden; das hab’ ich ſchon oft ergrübelt. Findet ſich irgend in einer Seele ein gan- zes Konzert, ein vollſtändiger großer Kreis von Talenten, wo keins das andere durch deſſen Ausſchließung bedingt; und be- lebt ein reges, empfindliches, geſundes Herz dieſe Fertigkeiten; wohnt eine lebendige Überzeugung in ſolchem Geiſte, dann iſt das Genie fertig. Dann lieb’ ich es mit leidenſchaftlicher, glücklicher Bewunderung! Wen ich als Autor ſo liebe, das wiſſen Sie. Eh ich Ihren Brief geſtern erhielt, im Nachmit- tag, ſprach ich erſt von dem großen, einzigen Einfluß, den Lokale auf mich üben; das was mich umgiebt, beherrſcht mich meiſt ganz, unwiderſtehlich: kein Unglück, nichts widerſteht dem ganz, Kein Glück, keiner Art, wäre für mich genießbar, könnte mir den Seelenzuſtand ganz bereiten, deſſen meine Seele bedarf, um es ruhig in ſich wirken zu laſſen, wenn ich in einem mir verhaßten, mir widerſprechenden Lokal, in ſolcher Stadt, ſolcher Gegend bin. Kein Menſch iſt empfindlicher für ſolche Dinge: hat ſie zeitlebens ſo ausgeſponnen, zur Deut- lichkeit gebracht, ſo davon gelitten! Sie können alſo denken, wie erwünſcht mir Ihr Brief kam; wie balſamiſch er auf mich wirkte! Wie ein gourmand gerne von ſchönen Speiſen hört; ſo bin ich in meiner leckeren Gierigkeit dahin gekommen, ſchon zufrieden zu werden, wenn nur Andere recht ſchön wohnen: beſonders wenn es nun Freunde ſind; und in einer Verfaſ-
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mir anbietet. In der Art hab’ ich mir aber beinah alle Ta-
lente auch der andern Menſchen erklärt: meiſt iſt jedes Talent
nur eine Umgränzung einiger in einander greifenden Gaben,
die grade die Nachbargaben ausſchließen, oder deren Mangel
vorausſetzen, und von dem begründet werden; das hab’ ich
ſchon oft ergrübelt. Findet ſich irgend in einer Seele ein gan-
zes Konzert, ein vollſtändiger großer Kreis von Talenten, wo
keins das andere durch deſſen Ausſchließung bedingt; und be-
lebt ein reges, empfindliches, geſundes Herz dieſe Fertigkeiten;
wohnt eine lebendige Überzeugung in ſolchem Geiſte, dann iſt
das Genie fertig. Dann lieb’ ich es mit leidenſchaftlicher,
glücklicher Bewunderung! Wen ich als Autor ſo liebe, das
wiſſen Sie. Eh ich Ihren Brief geſtern erhielt, im Nachmit-
tag, ſprach ich erſt von dem großen, einzigen Einfluß, den
Lokale auf mich üben; das was mich umgiebt, beherrſcht mich
meiſt ganz, unwiderſtehlich: kein Unglück, nichts widerſteht
dem ganz, Kein Glück, keiner Art, wäre für mich genießbar,
könnte mir den Seelenzuſtand ganz bereiten, deſſen meine Seele
bedarf, um es ruhig in ſich wirken zu laſſen, wenn ich in
einem mir verhaßten, mir widerſprechenden Lokal, in ſolcher
Stadt, ſolcher Gegend bin. Kein Menſch iſt empfindlicher
für ſolche Dinge: hat ſie zeitlebens ſo ausgeſponnen, zur Deut-
lichkeit gebracht, ſo davon gelitten! Sie können alſo denken,
wie erwünſcht mir Ihr Brief kam; wie balſamiſch er auf mich
wirkte! Wie ein gourmand gerne von ſchönen Speiſen hört;
ſo bin ich in meiner leckeren Gierigkeit dahin gekommen, ſchon
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/560>, abgerufen am 22.11.2024.
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