neue Sprachen! Nicht aus Affektation. Ich kann nicht an- ders. Mir hilft alles Lesen nichts. Manches hab' ich diesen Winter gelesen. Vieles war gut und gefiel mir. Ich las auch mehreres von Lavater. Den lieb' ich von ganzer Seele! Er ist brav. Geistreich; voller Einfälle; gütig: ungeduldig; nämlich, übt die höchste Geduld mit Menschen aller Art; von allseitiger, und tiefer gütiger Einsicht. Nach der Bibel re- ligiös: mit so vieler wahren erhabnen Religion, daß ich ihn liebe, wenn er unzubehauptende Dinge behauptet. Ein eng- lischer Mensch! Lesen Sie, wenn Sie es nur irgend bekom- men können, gleich -- vielleicht auf der reichen Pariser Bi- bliothek; hat sie auch Deutsches? fragen Sie Hrn. Oelsner, vielleicht hat der Bekannte, die deutsche Bücher haben -- "Aussichten in die Ewigkeit, von Lavater, in Briefen an Zim- mermann." Wundergöttlich. Dies Buch allein hat mich die- sen Winter oben erhalten. Sonst hätte ich mich für gesunken halten müssen. Noch scheint mir dies Buch wie warme lichte Sonne in meine Zeit. Lassen Sie sich nicht abschrecken von mancher präkautionirenden Weitläufigkeit in dem Buche, der arme Lavater mußte sich der damaligen Geistesepoche beugen; es war die der -- vielleicht präsumtuosen -- Aufklärung, er thut es mit Grazie, und Geduld, und Ungeduld: wir lernen jene Zeit und ihre Schwierigkeiten daraus kennen, und unsere tüchtiger auch schon als eine ehmalige beurtheilen, und sehen flache Stüfchen mit großer Anmaßung betreten: auch der arme Racine -- in seinen Briefen, vorzüglich an Boileau -- mußte sich wieder einer andern, der bigotten Zeit, oder vielmehr dem bigotten Hofe mit einem Beichtvater-Einfluß, fügen. So
neue Sprachen! Nicht aus Affektation. Ich kann nicht an- ders. Mir hilft alles Leſen nichts. Manches hab’ ich dieſen Winter geleſen. Vieles war gut und gefiel mir. Ich las auch mehreres von Lavater. Den lieb’ ich von ganzer Seele! Er iſt brav. Geiſtreich; voller Einfälle; gütig: ungeduldig; nämlich, übt die höchſte Geduld mit Menſchen aller Art; von allſeitiger, und tiefer gütiger Einſicht. Nach der Bibel re- ligiös: mit ſo vieler wahren erhabnen Religion, daß ich ihn liebe, wenn er unzubehauptende Dinge behauptet. Ein eng- liſcher Menſch! Leſen Sie, wenn Sie es nur irgend bekom- men können, gleich — vielleicht auf der reichen Pariſer Bi- bliothek; hat ſie auch Deutſches? fragen Sie Hrn. Oelsner, vielleicht hat der Bekannte, die deutſche Bücher haben — „Ausſichten in die Ewigkeit, von Lavater, in Briefen an Zim- mermann.“ Wundergöttlich. Dies Buch allein hat mich die- ſen Winter oben erhalten. Sonſt hätte ich mich für geſunken halten müſſen. Noch ſcheint mir dies Buch wie warme lichte Sonne in meine Zeit. Laſſen Sie ſich nicht abſchrecken von mancher präkautionirenden Weitläufigkeit in dem Buche, der arme Lavater mußte ſich der damaligen Geiſtesepoche beugen; es war die der — vielleicht präſumtuoſen — Aufklärung, er thut es mit Grazie, und Geduld, und Ungeduld: wir lernen jene Zeit und ihre Schwierigkeiten daraus kennen, und unſere tüchtiger auch ſchon als eine ehmalige beurtheilen, und ſehen flache Stüfchen mit großer Anmaßung betreten: auch der arme Racine — in ſeinen Briefen, vorzüglich an Boileau — mußte ſich wieder einer andern, der bigotten Zeit, oder vielmehr dem bigotten Hofe mit einem Beichtvater-Einfluß, fügen. So
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neue Sprachen! Nicht aus Affektation. Ich kann nicht an-
ders. Mir hilft alles Leſen nichts. Manches hab’ ich dieſen
Winter geleſen. Vieles war gut und gefiel mir. Ich las
auch mehreres von Lavater. Den lieb’ ich von ganzer Seele!
Er iſt brav. Geiſtreich; voller Einfälle; gütig: ungeduldig;
nämlich, übt die höchſte Geduld mit Menſchen aller Art; von
allſeitiger, und tiefer gütiger Einſicht. Nach der Bibel re-
ligiös: mit ſo vieler wahren erhabnen Religion, daß ich ihn
liebe, wenn er unzubehauptende Dinge behauptet. Ein eng-
liſcher Menſch! Leſen Sie, wenn Sie es nur irgend bekom-
men können, gleich — vielleicht auf der reichen Pariſer Bi-
bliothek; hat ſie auch Deutſches? fragen Sie Hrn. Oelsner,
vielleicht hat der Bekannte, die deutſche Bücher haben —
„Ausſichten in die Ewigkeit, von Lavater, in Briefen an Zim-
mermann.“ Wundergöttlich. Dies Buch allein hat mich die-
ſen Winter oben erhalten. Sonſt hätte ich mich für geſunken
halten müſſen. Noch ſcheint mir dies Buch wie warme lichte
Sonne in meine Zeit. Laſſen Sie ſich nicht abſchrecken von
mancher präkautionirenden Weitläufigkeit in dem Buche, der
arme Lavater mußte ſich der damaligen Geiſtesepoche beugen;
es war die der — vielleicht präſumtuoſen — Aufklärung, er
thut es mit Grazie, und Geduld, und Ungeduld: wir lernen
jene Zeit und ihre Schwierigkeiten daraus kennen, und unſere
tüchtiger auch ſchon als eine ehmalige beurtheilen, und ſehen
flache Stüfchen mit großer Anmaßung betreten: auch der arme
Racine — in ſeinen Briefen, vorzüglich an Boileau — mußte
ſich wieder einer andern, der bigotten Zeit, oder vielmehr dem
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/578>, abgerufen am 22.11.2024.
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