Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

macht wurde; ich habe nämlich noch dieselben Neigungen, zu
und ab; wie sonst, dieselben Ansichten; dieselbe Kraft, eben
die unheilbare Schwäche, Geschicklichkeiten und Ungeschicklich-
keiten, dieselben Meinungen, nur für alles dies, für mich selbst,
mehr Gründe und Beläge in meinem Magazin. Dieses Ma-
gazin immer ordentlicher, reicher, voller, richtiger, zusammen-
hängender zu machen, halte ich eigentlich für mein Lebensge-
schäft: ich halte es dafür, weil ich sehe, mit Augen, und allem
was ich sonst noch besitze, daß ich doch sonst nichts zuwege
bringe. Ich finde mich also mit mir, wie zu vierzehn, zu
sechszehn Jahren. Nur ein paar mördrische Schläge hat mir
das Alter vernichtend beigebracht. Und so wird's wohl am
Ende mit allen Leuten sein, die sich besinnen; und zu vier-
zehn, fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahren lebten. Getödtet
ist in mir die Möglichkeit, mir zu meinem Glück oder Ver-
gnügen die mindeste Mühe geben zu können. Natürlich muß
ich mir doch meine Tage, so wie sie einer nach dem andern
kommen, bereiten; und sie zwingen mich wie jeden, zu thun
was ich nicht kann, und nicht mag! Aber wie thue ich es?
Mit Ingrimm, mit höchster Verachtung und Nichtachtung un-
seres ganzen Zustandes, mit unendlichster Zerstreuung, mit den
strafbarsten, dabei von mir im tiefsten Innersten -- und auch
eben jetzt! applaudirten Lücken! Ich verachte, wie noch nie
jemand
, in Anstalten den Lebensfaden hinzugeuden! Ich
verachte die ewigen neuen Anmuthungen des Menschenschick-
sals. Ich verachte gänzlich, was mir von Menschen
Schlechtes
herrühren kann, bis zum nicht wissen, nicht be-
halten: und bringt es der Tag mit sich, daß ich es wissen

macht wurde; ich habe nämlich noch dieſelben Neigungen, zu
und ab; wie ſonſt, dieſelben Anſichten; dieſelbe Kraft, eben
die unheilbare Schwäche, Geſchicklichkeiten und Ungeſchicklich-
keiten, dieſelben Meinungen, nur für alles dies, für mich ſelbſt,
mehr Gründe und Beläge in meinem Magazin. Dieſes Ma-
gazin immer ordentlicher, reicher, voller, richtiger, zuſammen-
hängender zu machen, halte ich eigentlich für mein Lebensge-
ſchäft: ich halte es dafür, weil ich ſehe, mit Augen, und allem
was ich ſonſt noch beſitze, daß ich doch ſonſt nichts zuwege
bringe. Ich finde mich alſo mit mir, wie zu vierzehn, zu
ſechszehn Jahren. Nur ein paar mördriſche Schläge hat mir
das Alter vernichtend beigebracht. Und ſo wird’s wohl am
Ende mit allen Leuten ſein, die ſich beſinnen; und zu vier-
zehn, fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahren lebten. Getödtet
iſt in mir die Möglichkeit, mir zu meinem Glück oder Ver-
gnügen die mindeſte Mühe geben zu können. Natürlich muß
ich mir doch meine Tage, ſo wie ſie einer nach dem andern
kommen, bereiten; und ſie zwingen mich wie jeden, zu thun
was ich nicht kann, und nicht mag! Aber wie thue ich es?
Mit Ingrimm, mit höchſter Verachtung und Nichtachtung un-
ſeres ganzen Zuſtandes, mit unendlichſter Zerſtreuung, mit den
ſtrafbarſten, dabei von mir im tiefſten Innerſten — und auch
eben jetzt! applaudirten Lücken! Ich verachte, wie noch nie
jemand
, in Anſtalten den Lebensfaden hinzugeuden! Ich
verachte die ewigen neuen Anmuthungen des Menſchenſchick-
ſals. Ich verachte gänzlich, was mir von Menſchen
Schlechtes
herrühren kann, bis zum nicht wiſſen, nicht be-
halten: und bringt es der Tag mit ſich, daß ich es wiſſen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0615" n="607"/>
macht wurde; ich habe nämlich noch die&#x017F;elben Neigungen, zu<lb/>
und ab; wie &#x017F;on&#x017F;t, die&#x017F;elben An&#x017F;ichten; die&#x017F;elbe Kraft, eben<lb/>
die unheilbare Schwäche, Ge&#x017F;chicklichkeiten und Unge&#x017F;chicklich-<lb/>
keiten, die&#x017F;elben Meinungen, nur für alles dies, für mich &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
mehr Gründe und Beläge in meinem Magazin. Die&#x017F;es Ma-<lb/>
gazin immer ordentlicher, reicher, voller, richtiger, zu&#x017F;ammen-<lb/>
hängender zu machen, halte ich eigentlich für mein Lebensge-<lb/>
&#x017F;chäft: ich halte es dafür, weil ich &#x017F;ehe, mit Augen, und allem<lb/>
was ich &#x017F;on&#x017F;t noch be&#x017F;itze, daß ich doch &#x017F;on&#x017F;t nichts zuwege<lb/>
bringe. Ich finde mich al&#x017F;o mit mir, wie zu vierzehn, zu<lb/>
&#x017F;echszehn Jahren. Nur ein paar mördri&#x017F;che Schläge hat mir<lb/>
das Alter vernichtend beigebracht. Und &#x017F;o wird&#x2019;s wohl am<lb/>
Ende mit allen Leuten &#x017F;ein, die &#x017F;ich be&#x017F;innen; und zu vier-<lb/>
zehn, fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahren <hi rendition="#g">lebten</hi>. Getödtet<lb/>
i&#x017F;t in mir die Möglichkeit, mir zu <hi rendition="#g">meinem</hi> Glück oder Ver-<lb/>
gnügen die minde&#x017F;te Mühe geben zu können. Natürlich muß<lb/>
ich mir doch meine Tage, &#x017F;o wie &#x017F;ie einer nach dem andern<lb/>
kommen, bereiten; und &#x017F;ie zwingen mich wie jeden, zu thun<lb/>
was ich <hi rendition="#g">nicht</hi> kann, und nicht <hi rendition="#g">mag</hi>! Aber <hi rendition="#g">wie</hi> thue ich es?<lb/>
Mit Ingrimm, mit höch&#x017F;ter Verachtung und Nichtachtung un-<lb/>
&#x017F;eres ganzen Zu&#x017F;tandes, mit unendlich&#x017F;ter Zer&#x017F;treuung, mit den<lb/>
&#x017F;trafbar&#x017F;ten, dabei von mir im tief&#x017F;ten Inner&#x017F;ten &#x2014; und auch<lb/>
eben jetzt! applaudirten Lücken! Ich verachte, <hi rendition="#g">wie noch nie<lb/>
jemand</hi>, in An&#x017F;talten den Lebensfaden hinzugeuden! Ich<lb/>
verachte die ewigen neuen Anmuthungen des Men&#x017F;chen&#x017F;chick-<lb/>
&#x017F;als. Ich verachte gänzlich, was mir von <hi rendition="#g">Men&#x017F;chen<lb/>
Schlechtes</hi> herrühren kann, bis zum nicht wi&#x017F;&#x017F;en, nicht be-<lb/>
halten: und bringt es der <hi rendition="#g">Tag</hi> mit &#x017F;ich, daß ich es wi&#x017F;&#x017F;en<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[607/0615] macht wurde; ich habe nämlich noch dieſelben Neigungen, zu und ab; wie ſonſt, dieſelben Anſichten; dieſelbe Kraft, eben die unheilbare Schwäche, Geſchicklichkeiten und Ungeſchicklich- keiten, dieſelben Meinungen, nur für alles dies, für mich ſelbſt, mehr Gründe und Beläge in meinem Magazin. Dieſes Ma- gazin immer ordentlicher, reicher, voller, richtiger, zuſammen- hängender zu machen, halte ich eigentlich für mein Lebensge- ſchäft: ich halte es dafür, weil ich ſehe, mit Augen, und allem was ich ſonſt noch beſitze, daß ich doch ſonſt nichts zuwege bringe. Ich finde mich alſo mit mir, wie zu vierzehn, zu ſechszehn Jahren. Nur ein paar mördriſche Schläge hat mir das Alter vernichtend beigebracht. Und ſo wird’s wohl am Ende mit allen Leuten ſein, die ſich beſinnen; und zu vier- zehn, fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahren lebten. Getödtet iſt in mir die Möglichkeit, mir zu meinem Glück oder Ver- gnügen die mindeſte Mühe geben zu können. Natürlich muß ich mir doch meine Tage, ſo wie ſie einer nach dem andern kommen, bereiten; und ſie zwingen mich wie jeden, zu thun was ich nicht kann, und nicht mag! Aber wie thue ich es? Mit Ingrimm, mit höchſter Verachtung und Nichtachtung un- ſeres ganzen Zuſtandes, mit unendlichſter Zerſtreuung, mit den ſtrafbarſten, dabei von mir im tiefſten Innerſten — und auch eben jetzt! applaudirten Lücken! Ich verachte, wie noch nie jemand, in Anſtalten den Lebensfaden hinzugeuden! Ich verachte die ewigen neuen Anmuthungen des Menſchenſchick- ſals. Ich verachte gänzlich, was mir von Menſchen Schlechtes herrühren kann, bis zum nicht wiſſen, nicht be- halten: und bringt es der Tag mit ſich, daß ich es wiſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/615
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/615>, abgerufen am 27.11.2024.