Krieg, und tolles Nehmen und Wehren bis zu unsern Schwel- len kommen kann, daß wir vor den Wilden nichts voraus haben; Bücher, gebildete Reden, wohlthätiges Sein aparte daliegt, und nicht in unsern großen Verfassungen mit inbe- griffen steht, daß wir allem ausgesetzt sind, und nur prahlend uns aufmuntern, wenn wir unsere Meinungen und Religionen über alle andere setzen: -- das macht mich ganz perplex und beugt mich. Freilich war irgendwo Krieg, so lang' ich lebe; das Nahe dringt sich einem aber am meisten auf; und die ganze Erde ist ja jetzt in der Ansteckung. Vier kluge Gedan- ken, kann eine ganze Nachkommenschaft einmal über uns und unsern Zustand hervorbringen, diese Nachkommenschaft besteht denn aus drei oder vier Historikern und einer kleinen Zahl sie Fassender! Dies ist meines Bedünkens für die Menschen- gesammtheit daraus zu erbeuten.
Noch haben wir ruhige Abende! -- in einem solchen las ich gestern Tiecks Phantasus. Daraus habe ich ganz etwas Neues erfahren, daß man die klügsten, ja feinsten Dinge sa- gen kann, und über jede Gebühr langweilig dabei sein kann. Dialogen sind schon das Schwerste, wie mich dünkt, und nur Shakespeare, Goethe und Jean Paul in den Flegeljahren sind welche gelungen: dieses fortfließende Leben, mit seinen unend- lichen Voraussetzungen, durch die kleinsten aber bestimmendsten Züge kenntlich gemacht: gelingt nur dem lebhaftesten, gründ- lichsten, leichtesten Bemerker, wenn er die Gabe des Beurthei- lens während der Vertheilung derselben in seinen Werken auf's höchste besitzt. Nun kommt Tieck mit roh zusammen- gestoppelten Reden und Gegenreden ohne alle Situation, als
II. 6
Krieg, und tolles Nehmen und Wehren bis zu unſern Schwel- len kommen kann, daß wir vor den Wilden nichts voraus haben; Bücher, gebildete Reden, wohlthätiges Sein aparte daliegt, und nicht in unſern großen Verfaſſungen mit inbe- griffen ſteht, daß wir allem ausgeſetzt ſind, und nur prahlend uns aufmuntern, wenn wir unſere Meinungen und Religionen über alle andere ſetzen: — das macht mich ganz perplex und beugt mich. Freilich war irgendwo Krieg, ſo lang’ ich lebe; das Nahe dringt ſich einem aber am meiſten auf; und die ganze Erde iſt ja jetzt in der Anſteckung. Vier kluge Gedan- ken, kann eine ganze Nachkommenſchaft einmal über uns und unſern Zuſtand hervorbringen, dieſe Nachkommenſchaft beſteht denn aus drei oder vier Hiſtorikern und einer kleinen Zahl ſie Faſſender! Dies iſt meines Bedünkens für die Menſchen- geſammtheit daraus zu erbeuten.
Noch haben wir ruhige Abende! — in einem ſolchen las ich geſtern Tiecks Phantaſus. Daraus habe ich ganz etwas Neues erfahren, daß man die klügſten, ja feinſten Dinge ſa- gen kann, und über jede Gebühr langweilig dabei ſein kann. Dialogen ſind ſchon das Schwerſte, wie mich dünkt, und nur Shakeſpeare, Goethe und Jean Paul in den Flegeljahren ſind welche gelungen: dieſes fortfließende Leben, mit ſeinen unend- lichen Vorausſetzungen, durch die kleinſten aber beſtimmendſten Züge kenntlich gemacht: gelingt nur dem lebhafteſten, gründ- lichſten, leichteſten Bemerker, wenn er die Gabe des Beurthei- lens während der Vertheilung derſelben in ſeinen Werken auf’s höchſte beſitzt. Nun kommt Tieck mit roh zuſammen- geſtoppelten Reden und Gegenreden ohne alle Situation, als
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Krieg, und tolles Nehmen und Wehren bis zu unſern Schwel-
len kommen kann, daß wir vor den Wilden nichts voraus
haben; Bücher, gebildete Reden, wohlthätiges Sein aparte
daliegt, und nicht in unſern großen Verfaſſungen mit inbe-
griffen ſteht, daß wir allem ausgeſetzt ſind, und nur prahlend
uns aufmuntern, wenn wir unſere Meinungen und Religionen
über alle andere ſetzen: — das macht mich ganz perplex und
beugt mich. Freilich war irgendwo Krieg, ſo lang’ ich lebe;
das Nahe dringt ſich einem aber am meiſten auf; und die
ganze Erde iſt ja jetzt in der Anſteckung. Vier kluge Gedan-
ken, kann eine ganze Nachkommenſchaft einmal über uns und
unſern Zuſtand hervorbringen, dieſe Nachkommenſchaft beſteht
denn aus drei oder vier Hiſtorikern und einer kleinen Zahl
ſie Faſſender! Dies iſt meines Bedünkens für die Menſchen-
geſammtheit daraus zu erbeuten.
Noch haben wir ruhige Abende! — in einem ſolchen las
ich geſtern Tiecks Phantaſus. Daraus habe ich ganz etwas
Neues erfahren, daß man die klügſten, ja feinſten Dinge ſa-
gen kann, und über jede Gebühr langweilig dabei ſein kann.
Dialogen ſind ſchon das Schwerſte, wie mich dünkt, und nur
Shakeſpeare, Goethe und Jean Paul in den Flegeljahren ſind
welche gelungen: dieſes fortfließende Leben, mit ſeinen unend-
lichen Vorausſetzungen, durch die kleinſten aber beſtimmendſten
Züge kenntlich gemacht: gelingt nur dem lebhafteſten, gründ-
lichſten, leichteſten Bemerker, wenn er die Gabe des Beurthei-
lens während der Vertheilung derſelben in ſeinen Werken
auf’s höchſte beſitzt. Nun kommt Tieck mit roh zuſammen-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/89>, abgerufen am 21.11.2024.
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