kein Klätern, keinen Weg, keine Anrede, und Rede mit ge- meinen Leuten verdrießen lasse: weil ich denke, je schneller die Hülfe, desto mehr ist sie Hülfe: weil ich weiß, was krank schmachten ist; und keine Wäsche anziehen können, eben so halte, als keine anzuziehen haben. Unser großes Lazareth war in einem schrecklichen Zustand!! Wegen unordentlicher Einrichtung und Deprädation. Kaum erfuhr es aber die Stadt, so war ein General-Aufstand. Jeder schrie, lief, und gab. Ich schrieb Markus, dieser Böhm, Böhm dem Civilgouverneur, die schnellsten Einsammlungen kamen in drei Tagen zusammen; vom neuen Lazareth wurde alles hingeschickt; alle Ärzte sam- melten, fuhren mit großen Geldbeuteln: Wäsche aller Art, Betten, wurden nach ihren Häusern geschickt, Essen, wo immer hundert fünf und zwanzig Frauen kochen ließen; keine schlief, ruhte mehr. -- Mir hat's einen großen Theil Gesundheit ge- kostet; aber ich bin gesund, und kann sehr laufen. Gestern lief ich darum von der Dreifaltigkeitskirche bis in die Lands- berger Straße, heute wieder dahin. Ich schreibe dies mit Thrä- nen in den Augen, und mit Entzücken über unsere Stadt.
-- Die Juden geben, was sie nur besitzen: an die wandt' ich mein Geschrei zuerst. Die Herz ist unendlich thätig: ich sporne sie noch mehr. Nein, wie freut mich die Stadt! Kommt sie doch zu sich selbst; thut sie endlich wohl, wie es Jesus meint; und wie es mich peinigt, daß es nicht geschieht. -- Welche Wehmuthswunden hat mir dies Lazareth geschlagen! Reil nimmt sich der Sache jetzt an; ich will heute noch mit Böhm sprechen: ich habe keine Ruhe! Der Deutsche Beobachter findet hier den größten Beifall: und ich behalte ihn niemals!
kein Klätern, keinen Weg, keine Anrede, und Rede mit ge- meinen Leuten verdrießen laſſe: weil ich denke, je ſchneller die Hülfe, deſto mehr iſt ſie Hülfe: weil ich weiß, was krank ſchmachten iſt; und keine Wäſche anziehen können, eben ſo halte, als keine anzuziehen haben. Unſer großes Lazareth war in einem ſchrecklichen Zuſtand!! Wegen unordentlicher Einrichtung und Deprädation. Kaum erfuhr es aber die Stadt, ſo war ein General-Aufſtand. Jeder ſchrie, lief, und gab. Ich ſchrieb Markus, dieſer Böhm, Böhm dem Civilgouverneur, die ſchnellſten Einſammlungen kamen in drei Tagen zuſammen; vom neuen Lazareth wurde alles hingeſchickt; alle Ärzte ſam- melten, fuhren mit großen Geldbeuteln: Wäſche aller Art, Betten, wurden nach ihren Häuſern geſchickt, Eſſen, wo immer hundert fünf und zwanzig Frauen kochen ließen; keine ſchlief, ruhte mehr. — Mir hat’s einen großen Theil Geſundheit ge- koſtet; aber ich bin geſund, und kann ſehr laufen. Geſtern lief ich darum von der Dreifaltigkeitskirche bis in die Lands- berger Straße, heute wieder dahin. Ich ſchreibe dies mit Thrä- nen in den Augen, und mit Entzücken über unſere Stadt.
— Die Juden geben, was ſie nur beſitzen: an die wandt’ ich mein Geſchrei zuerſt. Die Herz iſt unendlich thätig: ich ſporne ſie noch mehr. Nein, wie freut mich die Stadt! Kommt ſie doch zu ſich ſelbſt; thut ſie endlich wohl, wie es Jeſus meint; und wie es mich peinigt, daß es nicht geſchieht. — Welche Wehmuthswunden hat mir dies Lazareth geſchlagen! Reil nimmt ſich der Sache jetzt an; ich will heute noch mit Böhm ſprechen: ich habe keine Ruhe! Der Deutſche Beobachter findet hier den größten Beifall: und ich behalte ihn niemals!
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0099"n="91"/>
kein Klätern, keinen Weg, keine Anrede, und Rede mit ge-<lb/>
meinen Leuten verdrießen laſſe: weil ich denke, je ſchneller die<lb/>
Hülfe, deſto mehr iſt ſie Hülfe: weil ich weiß, was <hirendition="#g">krank<lb/>ſchmachten iſt</hi>; und keine Wäſche anziehen <hirendition="#g">können</hi>, eben<lb/>ſo halte, als keine anzuziehen <hirendition="#g">haben</hi>. Unſer großes Lazareth<lb/>
war in einem <hirendition="#g">ſchrecklichen</hi> Zuſtand!! Wegen unordentlicher<lb/>
Einrichtung und Deprädation. Kaum erfuhr es aber die Stadt,<lb/>ſo war ein General-<hirendition="#g">Aufſtand. Jeder</hi>ſchrie, lief, und gab.<lb/>
Ich ſchrieb Markus, dieſer Böhm, Böhm dem Civilgouverneur,<lb/>
die ſchnellſten Einſammlungen kamen in drei Tagen zuſammen;<lb/>
vom neuen Lazareth wurde alles hingeſchickt; alle Ärzte ſam-<lb/>
melten, fuhren mit großen Geldbeuteln: Wäſche aller Art,<lb/>
Betten, wurden nach ihren Häuſern geſchickt, Eſſen, wo immer<lb/>
hundert fünf und zwanzig Frauen kochen ließen; keine ſchlief,<lb/>
ruhte mehr. — Mir hat’s einen großen Theil Geſundheit ge-<lb/>
koſtet; aber ich <hirendition="#g">bin</hi> geſund, und kann ſehr laufen. Geſtern<lb/>
lief ich darum von der Dreifaltigkeitskirche bis in die Lands-<lb/>
berger Straße, heute wieder dahin. Ich ſchreibe dies mit Thrä-<lb/>
nen in den Augen, und mit Entzücken über unſere <hirendition="#g">Stadt</hi>.</p><lb/><p>— Die Juden geben, was ſie nur beſitzen: an die wandt’<lb/>
ich <hirendition="#g">mein</hi> Geſchrei zuerſt. Die Herz iſt unendlich thätig: ich<lb/>ſporne ſie noch mehr. Nein, wie freut mich die Stadt! Kommt<lb/>ſie doch zu ſich ſelbſt; thut ſie endlich wohl, wie es Jeſus<lb/>
meint; und wie es mich peinigt, daß es nicht geſchieht. —<lb/>
Welche Wehmuthswunden hat mir dies Lazareth geſchlagen!<lb/>
Reil nimmt ſich der Sache jetzt an; ich will heute noch mit<lb/>
Böhm ſprechen: ich habe <hirendition="#g">keine</hi> Ruhe! Der Deutſche Beobachter<lb/>
findet hier den größten Beifall: und ich behalte ihn niemals!<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[91/0099]
kein Klätern, keinen Weg, keine Anrede, und Rede mit ge-
meinen Leuten verdrießen laſſe: weil ich denke, je ſchneller die
Hülfe, deſto mehr iſt ſie Hülfe: weil ich weiß, was krank
ſchmachten iſt; und keine Wäſche anziehen können, eben
ſo halte, als keine anzuziehen haben. Unſer großes Lazareth
war in einem ſchrecklichen Zuſtand!! Wegen unordentlicher
Einrichtung und Deprädation. Kaum erfuhr es aber die Stadt,
ſo war ein General-Aufſtand. Jeder ſchrie, lief, und gab.
Ich ſchrieb Markus, dieſer Böhm, Böhm dem Civilgouverneur,
die ſchnellſten Einſammlungen kamen in drei Tagen zuſammen;
vom neuen Lazareth wurde alles hingeſchickt; alle Ärzte ſam-
melten, fuhren mit großen Geldbeuteln: Wäſche aller Art,
Betten, wurden nach ihren Häuſern geſchickt, Eſſen, wo immer
hundert fünf und zwanzig Frauen kochen ließen; keine ſchlief,
ruhte mehr. — Mir hat’s einen großen Theil Geſundheit ge-
koſtet; aber ich bin geſund, und kann ſehr laufen. Geſtern
lief ich darum von der Dreifaltigkeitskirche bis in die Lands-
berger Straße, heute wieder dahin. Ich ſchreibe dies mit Thrä-
nen in den Augen, und mit Entzücken über unſere Stadt.
— Die Juden geben, was ſie nur beſitzen: an die wandt’
ich mein Geſchrei zuerſt. Die Herz iſt unendlich thätig: ich
ſporne ſie noch mehr. Nein, wie freut mich die Stadt! Kommt
ſie doch zu ſich ſelbſt; thut ſie endlich wohl, wie es Jeſus
meint; und wie es mich peinigt, daß es nicht geſchieht. —
Welche Wehmuthswunden hat mir dies Lazareth geſchlagen!
Reil nimmt ſich der Sache jetzt an; ich will heute noch mit
Böhm ſprechen: ich habe keine Ruhe! Der Deutſche Beobachter
findet hier den größten Beifall: und ich behalte ihn niemals!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/99>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.