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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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ziehendes und darauf Begründetes. Und weil wir die Gründe
zu diesen Fakta nicht kennen können, so muß da dann immer
das Gemüth eintreten; heißt: sich aus Bedürfniß -- welches
eigentlich wir selbst sind -- einen Grund, eine Voraussetzung
in einem andern Gebiete schaffen -- fast erschaffen, -- und
das mit Recht. Wo wir herstammen, und wo wir hinströ-
men, das sind so gut Glieder von uns, als die, welche wir
im zeitigen Gebrauch haben. "Wer nicht verzweiflen kann,
der muß nicht leben!" sagt auch der Mann, der -- und auch
aus diesem Gesichtspunkt mein' ich -- am vielfachsten, was
uns Menschen betrifft, gehandhabt, erwogen, und ergründet
hat, mit Herzens- und Geisteskräften, und der ein gesundes
Menschenkind geblieben ist, wie er anfing, mit allen derben
natürlichen Ansprüchen. Goethe sagt's. --




Es war mir schon lange zuwider, verheirathete Priester
zu sehn; und ich konnte mir auch manchen Grund davon an-
geben, aber keinen vollständigen. Nun sind mir aber die
Gründe dieses Eindrucks plötzlich erhellt, durch einen Blick auf
die jüdischen Priester, deren Ehen mir nicht störlich vorkommen.
Ein Priester Israels, Moses vorauf, war ein prophetischer;
ein Gesandter, Auserwählter, ein Verkündiger; ohne sein Zu-
thun, ohne seine Wahl. In einem Stamm pflanzten sie sich
fort. Moses empfing und verkündete Gesetze: strenge, scharfe,
bei Strafe: ohne Raisonnement; von Gott aus, eine Religion
also, für Kindermenschen. Der Christen Lehre ist eine Phi-

ziehendes und darauf Begründetes. Und weil wir die Gründe
zu dieſen Fakta nicht kennen können, ſo muß da dann immer
das Gemüth eintreten; heißt: ſich aus Bedürfniß — welches
eigentlich wir ſelbſt ſind — einen Grund, eine Vorausſetzung
in einem andern Gebiete ſchaffen — faſt erſchaffen, — und
das mit Recht. Wo wir herſtammen, und wo wir hinſtrö-
men, das ſind ſo gut Glieder von uns, als die, welche wir
im zeitigen Gebrauch haben. „Wer nicht verzweiflen kann,
der muß nicht leben!“ ſagt auch der Mann, der — und auch
aus dieſem Geſichtspunkt mein’ ich — am vielfachſten, was
uns Menſchen betrifft, gehandhabt, erwogen, und ergründet
hat, mit Herzens- und Geiſteskräften, und der ein geſundes
Menſchenkind geblieben iſt, wie er anfing, mit allen derben
natürlichen Anſprüchen. Goethe ſagt’s. —




Es war mir ſchon lange zuwider, verheirathete Prieſter
zu ſehn; und ich konnte mir auch manchen Grund davon an-
geben, aber keinen vollſtändigen. Nun ſind mir aber die
Gründe dieſes Eindrucks plötzlich erhellt, durch einen Blick auf
die jüdiſchen Prieſter, deren Ehen mir nicht ſtörlich vorkommen.
Ein Prieſter Israels, Moſes vorauf, war ein prophetiſcher;
ein Geſandter, Auserwählter, ein Verkündiger; ohne ſein Zu-
thun, ohne ſeine Wahl. In einem Stamm pflanzten ſie ſich
fort. Moſes empfing und verkündete Geſetze: ſtrenge, ſcharfe,
bei Strafe: ohne Raiſonnement; von Gott aus, eine Religion
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[181/0189] ziehendes und darauf Begründetes. Und weil wir die Gründe zu dieſen Fakta nicht kennen können, ſo muß da dann immer das Gemüth eintreten; heißt: ſich aus Bedürfniß — welches eigentlich wir ſelbſt ſind — einen Grund, eine Vorausſetzung in einem andern Gebiete ſchaffen — faſt erſchaffen, — und das mit Recht. Wo wir herſtammen, und wo wir hinſtrö- men, das ſind ſo gut Glieder von uns, als die, welche wir im zeitigen Gebrauch haben. „Wer nicht verzweiflen kann, der muß nicht leben!“ ſagt auch der Mann, der — und auch aus dieſem Geſichtspunkt mein’ ich — am vielfachſten, was uns Menſchen betrifft, gehandhabt, erwogen, und ergründet hat, mit Herzens- und Geiſteskräften, und der ein geſundes Menſchenkind geblieben iſt, wie er anfing, mit allen derben natürlichen Anſprüchen. Goethe ſagt’s. — Sonnabend, den 29. Januar 1825. Es war mir ſchon lange zuwider, verheirathete Prieſter zu ſehn; und ich konnte mir auch manchen Grund davon an- geben, aber keinen vollſtändigen. Nun ſind mir aber die Gründe dieſes Eindrucks plötzlich erhellt, durch einen Blick auf die jüdiſchen Prieſter, deren Ehen mir nicht ſtörlich vorkommen. Ein Prieſter Israels, Moſes vorauf, war ein prophetiſcher; ein Geſandter, Auserwählter, ein Verkündiger; ohne ſein Zu- thun, ohne ſeine Wahl. In einem Stamm pflanzten ſie ſich fort. Moſes empfing und verkündete Geſetze: ſtrenge, ſcharfe, bei Strafe: ohne Raiſonnement; von Gott aus, eine Religion alſo, für Kindermenſchen. Der Chriſten Lehre iſt eine Phi-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/189>, abgerufen am 23.11.2024.