"O, ich liebe alle Menschen; sie sind alle wie von meinem Fleisch und Blut; so zuckt es mir, wenn einem von ihnen was ist." Über ihre Schmerzen: "Ich verstehe sie nicht; aber ein Andrer. Schmerz ist Gottes Geheimniß; der versteht ihn." Ferner: "Könnte man sich nur recht zu Gott wenden, so wär' einem gleich geholfen. Mit seiner Hand hebt der einen heraus; ich habe sie schon an mir gefühlt, seine Hand. Aber so recht, wie man kann und soll, sich so ganz mit dem Auge an ihn ansaugen, das gelingt nicht immer, man will und kann nicht immer stark genug." Und dann: "Höhere Geister sehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott selbst hört und sieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz in mir; er ist nicht zu groß dazu." Später äußerte sie: "Solche Krankheit, ich fühl' es, ist jedesmal eine Gnade. Es wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl' es, zum Bessern, zur Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde thun."
Ich wollte noch vieles der Art festhalten und bewahren, aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des Gemüths der einzelnen Gegenstände nicht Meister bleiben. Der innig süße und zugleich schauerlich kräftige Ton der Stimme ergriff mehr noch als die Worte selbst, ihr ganzer Inhalt lag schon in ihm. --
Montag, den 30. Mai 1825.
Beten ist ein sich Fassen, ein Zusammensammlen mit anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen soll geschehn,
„O, ich liebe alle Menſchen; ſie ſind alle wie von meinem Fleiſch und Blut; ſo zuckt es mir, wenn einem von ihnen was iſt.“ Über ihre Schmerzen: „Ich verſtehe ſie nicht; aber ein Andrer. Schmerz iſt Gottes Geheimniß; der verſteht ihn.“ Ferner: „Könnte man ſich nur recht zu Gott wenden, ſo wär’ einem gleich geholfen. Mit ſeiner Hand hebt der einen heraus; ich habe ſie ſchon an mir gefühlt, ſeine Hand. Aber ſo recht, wie man kann und ſoll, ſich ſo ganz mit dem Auge an ihn anſaugen, das gelingt nicht immer, man will und kann nicht immer ſtark genug.“ Und dann: „Höhere Geiſter ſehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott ſelbſt hört und ſieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz in mir; er iſt nicht zu groß dazu.“ Später äußerte ſie: „Solche Krankheit, ich fühl’ es, iſt jedesmal eine Gnade. Es wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl’ es, zum Beſſern, zur Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde thun.“
Ich wollte noch vieles der Art feſthalten und bewahren, aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des Gemüths der einzelnen Gegenſtände nicht Meiſter bleiben. Der innig ſüße und zugleich ſchauerlich kräftige Ton der Stimme ergriff mehr noch als die Worte ſelbſt, ihr ganzer Inhalt lag ſchon in ihm. —
Montag, den 30. Mai 1825.
Beten iſt ein ſich Faſſen, ein Zuſammenſammlen mit anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen ſoll geſchehn,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0213"n="205"/>„O, ich liebe alle Menſchen; ſie ſind alle wie von meinem<lb/>
Fleiſch und Blut; <hirendition="#g">ſo</hi> zuckt es mir, wenn einem von ihnen<lb/>
was iſt.“ Über ihre Schmerzen: „Ich verſtehe ſie nicht; aber<lb/>
ein Andrer. Schmerz iſt Gottes Geheimniß; der verſteht ihn.“<lb/>
Ferner: „Könnte man ſich nur <hirendition="#g">recht</hi> zu Gott wenden, ſo<lb/>
wär’ einem gleich geholfen. Mit ſeiner <hirendition="#g">Hand</hi> hebt der einen<lb/>
heraus; ich habe ſie ſchon an mir gefühlt, ſeine Hand. Aber<lb/>ſo <hirendition="#g">recht</hi>, wie man kann und ſoll, ſich ſo <hirendition="#g">ganz</hi> mit dem<lb/>
Auge an ihn anſaugen, das gelingt nicht immer, man will<lb/>
und kann nicht immer ſtark genug.“ Und dann: „Höhere<lb/>
Geiſter ſehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott ſelbſt<lb/>
hört und ſieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz<lb/>
in mir; er iſt <hirendition="#g">nicht</hi> zu groß dazu.“ Später äußerte ſie:<lb/>„Solche Krankheit, ich fühl’ es, iſt jedesmal eine Gnade. Es<lb/>
wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl’ es, zum Beſſern, zur<lb/>
Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde<lb/>
thun.“</p><lb/><p>Ich wollte noch vieles der Art feſthalten und bewahren,<lb/>
aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des<lb/>
Gemüths der einzelnen Gegenſtände nicht Meiſter bleiben.<lb/>
Der innig ſüße und zugleich ſchauerlich kräftige Ton der<lb/>
Stimme ergriff mehr noch als die Worte ſelbſt, ihr ganzer<lb/>
Inhalt lag ſchon in ihm. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Montag, den 30. Mai 1825.</hi></dateline><lb/><p>Beten iſt ein ſich Faſſen, ein Zuſammenſammlen mit<lb/>
anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen ſoll geſchehn,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[205/0213]
„O, ich liebe alle Menſchen; ſie ſind alle wie von meinem
Fleiſch und Blut; ſo zuckt es mir, wenn einem von ihnen
was iſt.“ Über ihre Schmerzen: „Ich verſtehe ſie nicht; aber
ein Andrer. Schmerz iſt Gottes Geheimniß; der verſteht ihn.“
Ferner: „Könnte man ſich nur recht zu Gott wenden, ſo
wär’ einem gleich geholfen. Mit ſeiner Hand hebt der einen
heraus; ich habe ſie ſchon an mir gefühlt, ſeine Hand. Aber
ſo recht, wie man kann und ſoll, ſich ſo ganz mit dem
Auge an ihn anſaugen, das gelingt nicht immer, man will
und kann nicht immer ſtark genug.“ Und dann: „Höhere
Geiſter ſehen und hören jetzt meinen Jammer. Gott ſelbſt
hört und ſieht mich, er weiß um mich, und um jeden Schmerz
in mir; er iſt nicht zu groß dazu.“ Später äußerte ſie:
„Solche Krankheit, ich fühl’ es, iſt jedesmal eine Gnade. Es
wird einem ein Ruck gegeben, ich fühl’ es, zum Beſſern, zur
Entwicklung. Man muß dafür danken, und gute Gelübde
thun.“
Ich wollte noch vieles der Art feſthalten und bewahren,
aber das Gedächtniß konnte in der vielfachen Bewegung des
Gemüths der einzelnen Gegenſtände nicht Meiſter bleiben.
Der innig ſüße und zugleich ſchauerlich kräftige Ton der
Stimme ergriff mehr noch als die Worte ſelbſt, ihr ganzer
Inhalt lag ſchon in ihm. —
Montag, den 30. Mai 1825.
Beten iſt ein ſich Faſſen, ein Zuſammenſammlen mit
anderm Willen; mit vereinfachtem allgemeinen ſoll geſchehn,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/213>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.