Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

sorgen sollte, wenn sie eine rechtschaffene, und universal wäre.
Machen Sie den Witz, bester G.! Sie sollen all dergleichen
Aufträge haben: solch einen allerliebsten, ich könnte auch sa-
gen vortrefflichen Brief haben Sie uns geschickt. Sie verste-
hen mich, wenn ich das Wort "Kleinigkeiten" ausspreche.
Sie haben mir in leichter Form die ernstesten, scharfgesehensten
Dinge berichtet: und mit dem natürlichsten abandon; in völlig-
ster Unschuld; die schöne Aussaat wuchert bei mir im gesün-
desten Boden, und mein Geist soll deren Sonne, die Seele
deren Atmosphäre sein. Unter Ludwig XIV. war es unter
den Geistreichen Mode, Karakteristiken zu machen von Freun-
den und Bekannten, des portraits ecrits; auch später haben
sich welche versucht. Die gedruckten hab' ich wohl meist gele-
sen: ich ziehe ihnen allen weit vor einige, welche Mirabeau
in seinen Briefen gab; und Ihre, die Sie uns schenkten. Erst
gestern lasen wir Ihren Brief, lieber Doktor. Zehn Tage lag
er bei meinem Bruder Louis, der mit seiner Frau und meinem
ältesten Bruder eine Spazirreise nach Konstanz, dem Rhein-
fall u. s. w. gemacht hat, die zwölf Tage währte: und eine
größere Dankbarkeit, größere Anerkennung kann ich Ihnen
nicht beweisen, als mich gleich hinsetzen, um zu antworten.
Gleich nach Ankunft der Reisenden lasen wir zweimal Ihren
Brief. Den lieben nenn' ich ihn. Und wissen Sie warum?
wissen Sie warum! weil er voll der schärfsten, genausten,
treffendsten, flüchtigsten, erschöpfendsten Zeichnungen; die aber
ihre Richtigkeit und Schärfe nur aus Talent und Gründlich-
keit haben, ohne ein Gräuchen jener Ungerechtigkeit, Aufge-
brachtheit, aigreur -- nicht Bitterkeit -- der sonstigen scharfen

14 *

ſorgen ſollte, wenn ſie eine rechtſchaffene, und univerſal wäre.
Machen Sie den Witz, beſter G.! Sie ſollen all dergleichen
Aufträge haben: ſolch einen allerliebſten, ich könnte auch ſa-
gen vortrefflichen Brief haben Sie uns geſchickt. Sie verſte-
hen mich, wenn ich das Wort „Kleinigkeiten“ ausſpreche.
Sie haben mir in leichter Form die ernſteſten, ſcharfgeſehenſten
Dinge berichtet: und mit dem natürlichſten abandon; in völlig-
ſter Unſchuld; die ſchöne Ausſaat wuchert bei mir im geſün-
deſten Boden, und mein Geiſt ſoll deren Sonne, die Seele
deren Atmoſphäre ſein. Unter Ludwig XIV. war es unter
den Geiſtreichen Mode, Karakteriſtiken zu machen von Freun-
den und Bekannten, des portraits écrits; auch ſpäter haben
ſich welche verſucht. Die gedruckten hab’ ich wohl meiſt gele-
ſen: ich ziehe ihnen allen weit vor einige, welche Mirabeau
in ſeinen Briefen gab; und Ihre, die Sie uns ſchenkten. Erſt
geſtern laſen wir Ihren Brief, lieber Doktor. Zehn Tage lag
er bei meinem Bruder Louis, der mit ſeiner Frau und meinem
älteſten Bruder eine Spazirreiſe nach Konſtanz, dem Rhein-
fall u. ſ. w. gemacht hat, die zwölf Tage währte: und eine
größere Dankbarkeit, größere Anerkennung kann ich Ihnen
nicht beweiſen, als mich gleich hinſetzen, um zu antworten.
Gleich nach Ankunft der Reiſenden laſen wir zweimal Ihren
Brief. Den lieben nenn’ ich ihn. Und wiſſen Sie warum?
wiſſen Sie warum! weil er voll der ſchärfſten, genauſten,
treffendſten, flüchtigſten, erſchöpfendſten Zeichnungen; die aber
ihre Richtigkeit und Schärfe nur aus Talent und Gründlich-
keit haben, ohne ein Gräuchen jener Ungerechtigkeit, Aufge-
brachtheit, aigreur — nicht Bitterkeit — der ſonſtigen ſcharfen

14 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0219" n="211"/>
&#x017F;orgen &#x017F;ollte, wenn &#x017F;ie eine recht&#x017F;chaffene, und univer&#x017F;al wäre.<lb/>
Machen <hi rendition="#g">Sie</hi> den Witz, be&#x017F;ter G.! Sie &#x017F;ollen all dergleichen<lb/>
Aufträge haben: &#x017F;olch einen allerlieb&#x017F;ten, ich könnte auch &#x017F;a-<lb/>
gen vortrefflichen Brief haben Sie uns ge&#x017F;chickt. <hi rendition="#g">Sie</hi> ver&#x017F;te-<lb/>
hen mich, wenn ich das Wort &#x201E;Kleinigkeiten&#x201C; aus&#x017F;preche.<lb/>
Sie haben mir in leichter Form die ern&#x017F;te&#x017F;ten, &#x017F;charfge&#x017F;ehen&#x017F;ten<lb/>
Dinge berichtet: und mit dem natürlich&#x017F;ten <hi rendition="#aq">abandon;</hi> in völlig-<lb/>
&#x017F;ter Un&#x017F;chuld; die &#x017F;chöne Aus&#x017F;aat wuchert bei mir im ge&#x017F;ün-<lb/>
de&#x017F;ten Boden, und mein Gei&#x017F;t &#x017F;oll deren Sonne, die Seele<lb/>
deren Atmo&#x017F;phäre &#x017F;ein. Unter Ludwig <hi rendition="#aq">XIV.</hi> war es unter<lb/>
den Gei&#x017F;treichen Mode, Karakteri&#x017F;tiken zu machen von Freun-<lb/>
den und Bekannten, <hi rendition="#aq">des portraits écrits;</hi> auch &#x017F;päter haben<lb/>
&#x017F;ich welche ver&#x017F;ucht. Die gedruckten hab&#x2019; ich wohl mei&#x017F;t gele-<lb/>
&#x017F;en: ich ziehe ihnen allen weit vor einige, welche Mirabeau<lb/>
in &#x017F;einen Briefen gab; und Ihre, die Sie uns &#x017F;chenkten. Er&#x017F;t<lb/>
ge&#x017F;tern la&#x017F;en wir Ihren Brief, lieber Doktor. Zehn Tage lag<lb/>
er bei meinem Bruder Louis, der mit &#x017F;einer Frau und meinem<lb/>
älte&#x017F;ten Bruder eine Spazirrei&#x017F;e nach Kon&#x017F;tanz, dem Rhein-<lb/>
fall u. &#x017F;. w. gemacht hat, die zwölf Tage währte: und eine<lb/>
größere Dankbarkeit, größere Anerkennung kann ich Ihnen<lb/>
nicht bewei&#x017F;en, als mich gleich hin&#x017F;etzen, um zu antworten.<lb/>
Gleich nach Ankunft der Rei&#x017F;enden la&#x017F;en wir zweimal Ihren<lb/>
Brief. Den lieben nenn&#x2019; ich ihn. Und wi&#x017F;&#x017F;en Sie warum?<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Sie warum! weil er voll der &#x017F;chärf&#x017F;ten, genau&#x017F;ten,<lb/>
treffend&#x017F;ten, flüchtig&#x017F;ten, er&#x017F;chöpfend&#x017F;ten Zeichnungen; die aber<lb/>
ihre Richtigkeit und Schärfe nur aus Talent und Gründlich-<lb/>
keit haben, ohne ein Gräuchen jener Ungerechtigkeit, Aufge-<lb/>
brachtheit, <hi rendition="#aq">aigreur</hi> &#x2014; nicht Bitterkeit &#x2014; der &#x017F;on&#x017F;tigen &#x017F;charfen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">14 *</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[211/0219] ſorgen ſollte, wenn ſie eine rechtſchaffene, und univerſal wäre. Machen Sie den Witz, beſter G.! Sie ſollen all dergleichen Aufträge haben: ſolch einen allerliebſten, ich könnte auch ſa- gen vortrefflichen Brief haben Sie uns geſchickt. Sie verſte- hen mich, wenn ich das Wort „Kleinigkeiten“ ausſpreche. Sie haben mir in leichter Form die ernſteſten, ſcharfgeſehenſten Dinge berichtet: und mit dem natürlichſten abandon; in völlig- ſter Unſchuld; die ſchöne Ausſaat wuchert bei mir im geſün- deſten Boden, und mein Geiſt ſoll deren Sonne, die Seele deren Atmoſphäre ſein. Unter Ludwig XIV. war es unter den Geiſtreichen Mode, Karakteriſtiken zu machen von Freun- den und Bekannten, des portraits écrits; auch ſpäter haben ſich welche verſucht. Die gedruckten hab’ ich wohl meiſt gele- ſen: ich ziehe ihnen allen weit vor einige, welche Mirabeau in ſeinen Briefen gab; und Ihre, die Sie uns ſchenkten. Erſt geſtern laſen wir Ihren Brief, lieber Doktor. Zehn Tage lag er bei meinem Bruder Louis, der mit ſeiner Frau und meinem älteſten Bruder eine Spazirreiſe nach Konſtanz, dem Rhein- fall u. ſ. w. gemacht hat, die zwölf Tage währte: und eine größere Dankbarkeit, größere Anerkennung kann ich Ihnen nicht beweiſen, als mich gleich hinſetzen, um zu antworten. Gleich nach Ankunft der Reiſenden laſen wir zweimal Ihren Brief. Den lieben nenn’ ich ihn. Und wiſſen Sie warum? wiſſen Sie warum! weil er voll der ſchärfſten, genauſten, treffendſten, flüchtigſten, erſchöpfendſten Zeichnungen; die aber ihre Richtigkeit und Schärfe nur aus Talent und Gründlich- keit haben, ohne ein Gräuchen jener Ungerechtigkeit, Aufge- brachtheit, aigreur — nicht Bitterkeit — der ſonſtigen ſcharfen 14 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/219
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/219>, abgerufen am 21.11.2024.